Valentina Mira - X
Ein X steht für vieles: das Tabu, das Verdrängte, zwei Wege, die sich kreuzen und dann wieder voneinander entfernen. Es ist ein stilisierter Schmetterling, der früher eine Raupe war (also Veränderung), es ist ein schiefes Kreuz, vor allem aber ist es eine Unbekannte. "Um die Gleichung zu lösen, muss die Unbekannte gefunden werden. Ich werde es versuchen."
Dieser Roman, der von all dem oben Aufgezählten handelt, besteht aus drei dutzend Briefen. Geschrieben von Valentina Mira an ihren Bruder Andrea, der im Jahr 2012 ohne Abschied oder Erklärung spurlos verschwand. Da war er zwanzig, Valentina ist ein Jahr älter. An Weihnachten 2018 kehrte Andrea ein einziges Mal zurück, um einen `Weih-nachtsgruß´ zu hinterlassen: er zertrümmerte die Autos ihrer Eltern. War das der Gruß eines Faschisten an das Bürgertum? Valentina weiß, dass Andrea in die Faschistenszene abgetaucht ist, angestachelt durch G., einen ehemals gemeinsamen Freund der Geschwister.
Nach diesem Vorfall beginnt Valentina, ihrem Bruder Briefe zu schreiben:
"Deshalb habe ich beschlossen, in diesen Briefen zwei Tabus zu brechen: Dir zu erzählen, was G. mir angetan hat. Und was ich mir selbst angetan habe. Und warum."
Bei einer Party nach bestandenem Abitur hat G. Valentina vergewaltigt. Beide waren angetrunken, unterhielten sich zunächst, fingen an, sich zu küssen. Mehr wollte Valentina nicht, doch G. ignorierte ihr mehrfaches Nein. Er legte sich auf sie, "das führt bei mir zu einer instinktiven Kapitulation. Ich bin buchstäblich gelähmt ... obwohl ich noch flüchten könnte ... aber in einer Gefahrensituation wird automatisch die vertrauteste Überlebensstrategie aktiviert. Und meine besteht leider darin, mich tot zu stellen. Schade, dass sie im Fall einer Vergewaltigung nicht funktioniert."
Dieses Erlebnis wird Valentinas Leben fortan bestimmen. Und die Tatsache, dass Andrea ihr nicht glaubt, dass er ihr "den Rücken zukehrte, während ich unterging."
Valentina beschreibt in ihren Briefen, wie sie nach der Vergewaltigung innerlich tot ist, verstummt, Panikattacken hat, nichts mehr isst, fragil und aggressiv wird. Sie erzählt weder ihrer Mutter noch ihrem Vater von der Tat, bewahrt diese vor dem Schmerz, den sie ihnen mit der Wahrheit zufügen würde. Es dauerte Wochen, bis sie es Andrea sagte.
Sie entschied sich gegen eine Anzeige. Obwohl sie bei der Polizei war, oder gerade deshalb.
Außerdem hatte G. mit einer Gegenanzeige wegen Verleum-dung gedroht, sollte sie Anzeige erstatten.
Valentina fängt an zu zweifeln, sich die Schuld zu geben. Grund dafür sind auch die Berichte in der Presse über brutale Vergewaltigungen, bei denen die Opfer lebensgefährlich verletzt wurden. Das ist ihr nicht passiert, handelt es sich bei ihr gar nicht um Gewalt, weil sie nicht offensichtlich ist? Hat G. doch recht, "bin ich verrückt?"
Ist sie selbst schuld, wenn sie nach der Vergewaltigung anfängt, sich selbst zu verletzten, um dem Schmerz eine andere Richtung zu geben?
In die Briefe fließen Kindheitserinnerungen aus den 1990er Jahren ein und Valentina erzählt ihrem Bruder, wie ihr Leben nach seinem Verschwinden weiterging. Von ihrem Auszug von den Eltern, dem Jurastudium, der darauffolgenden Ausbildung zur Journalistin, die sie nicht abschließen konnte, weil sie nicht auf die Flirtversuche eines Studienleiters einging und dann ohne Praktikumsplatz dastand. Von ihrer Arbeit als Essenslieferantin oder im Callcenter, von dem Glück, endlich eine Arbeit bei einer Zeitung gefunden zu haben. Davon, wie der Chef dieser Zeitung sie in die Enge trieb, mit Kündigung drohte, sollte sie ihm nicht zu Willen sein, ihrem Ekel und ihrem Selbsthass, als sie schließlich nachgab.
Valentina Mira entwickelt aus der persönlichen Geschichte ihrer Heldin, mit der sie Name, Alter, berufliche Entwicklung und womöglich sehr viel mehr teilt, eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Vor allem mit der Rolle, die die Frauen darin spielen, zu spielen haben, bis hin zum letzten bestehenden Absolutum: dem Schönheitsideal.
Während sie nach der Tat vor allem von den psychischen und physischen Folgen erzählt, wendet sie sich zunehmend der gesellschaftlichen Dimension zu.
Warum sucht sie die Schuld bei sich? Gibt es dieses "uralte Erbe einer Kultur", die Frauen per se für schuldig erklärt? Ist es die Einübung durch Märchen, die einem klarmachen, dass Rotkäppchen sich nicht selbst verteidigen kann, dass es einen Mann braucht, um den bösen Wolf zu besiegen? Ist es die Reaktion ihrer Mutter auf Valentinas ersten Freund, ihr erstes Mal Sex, das die Mutter für schmutzig erklärte? Was, wenn schon freiwilliger Sex schmutzig ist? Ist es letzten Endes nicht immer die Frau, die auf ewig einen Makel trägt, wenn sie über eine Vergewaltigung spricht? Die ihr Leben als das eines "Beutetiers" empfindet, die sagt:
"Ich bin müde, bin aufgeregt. Wütend. Verstehe nicht, warum ich immer aus Gründen, die außerhalb meiner Macht liegen, aufgeben muss, was ich gut kann. Bin unsicher, ob es falscher ist, mit ihm (dem Chef) ins Bett zu gehen, um zugunsten der Schwächsten Artikel zu schreiben, oder mich damit anzufinden, selbst die Schwächste zu sein und mein Leben lang für ein Unternehmen Pizzas auszuliefern, das vielleicht niemanden belästigt, dafür aber zulässt, dass Mitarbeiter auf der Straße sterben, ohne dass ihre Familien eine Entschädi-gung bekommen. Für ein Unternehmen, das ungestraft tötet. Worin steckt mehr Gewalt? ... Oder sucht sich in dieser Gesellschaft von Brudermördern einfach jeder unter den Kompromissen denjenigen aus, der für ihn am wenigsten schlimm ist?"
Valentina verknüpft ihre eigene Geschichte mit den patriar-chalen Strukturen, dem Kapitalismus, der strukturellen Gewalt. Als Frau, als Teil des akademischen Prekariats, als eine, die ihr Schreiben einsetzen möchte, um aufzuklären und die Lage der Benachteiligten zu verbessern, ruft sie dazu auf, die Wut nach oben zu richten, nicht, wie bisher, nach unten. Sie hat gelernt:
"Es stimmt nicht, dass Gewalt immer falsch ist. Im Gegenteil gibt es Gewalt, die richtig ist. Die Wut der Unterdrückten, Gedemütigten - der unterdrückten, gedemütigten Frauen. Der Hass jener, die zu lange gehasst wurden."
Und:
"Weltweit werden sechsundneunzig Prozent der Morde von Männern begangen. ... Männliche Gewalt ist ein Problem. Eines, das alle etwas angeht, für das aber Männer verant-wortlich sind, das ist eine Tatsache. Du musst dich, ihr müsst euch damit auseinandersetzten. ... Auf welcher Seite stehst du, Bruder?"
Valentina verlässt das bisschen Sicherheit, das sie noch hatte, verlässt die Zeitung, kündigt ihre Wohnung. Mit ihrem doppelten Tabubruch und einem sichtbaren Aufschrei geht ein vorsichtiges Gefühl der Befreiung einher, eine Kraft zum Widerstand, die Bestätigung, dass Schweigen noch mehr Gewalt verursacht.
Der vollkommen ohne Pathos oder Selbstmitleid verfasste Roman ist das Debüt der 1991 in Rom geborenen Autorin.
Wie ihre Romanfigur Valentina trägt sie ein Tattoo auf dem Ringfinger, ein X, Symbol zunächst der Verbundenheit mit dem Bruder, der an dieser Stelle ein Muttermal hatte.
Es entwickelt sich zum Symbol des Widerstandes.
Trotz all der Gesellschaftskritik ist Valentina Mira ein klug komponierter Briefroman gelungen, der sich an keiner Stelle wie ein Pamphlet liest, sondern eine authentische und überzeugende Heldin entwickelt, eine, die sich dazu durch-gerungen hat, das Schweigen zu brechen.
Valentina Mira: X
Aus dem Italienischen von Barbara Sauser
Rotpunkt Verlag, Edition Blau, 2023, 216 Seiten
(Originalausgabe 2021)