Michèle Minelli - Wie es endet

Thierry ist Filmcutter, seine Frau Vanessa eine berühmte Schauspielerin. Zusammen mit ihrer fünfjährigen Tochter Evie verbringen die beiden ein langes Wochenende in einem Schweizer Luxusresort. Schlitten-fahren, in der Jurte schlafen, kuscheln, entspannen, das hat sich das hart arbeitende Paar verdient. Doch nicht nur eine Lawinensprengung bricht in                                                    dieses Idyll ein.

 

Thierry arbeitet schon geraume Zeit an dem Film "Theorie von allem". Dies verlangt ihm einiges ab:

"Seit ich an Theorie von allem arbeite, bin ich zu so etwas wie einem Fachmann für Kosmologie und Astrophysik mutiert".

 

Er beschäftigt sich mit Relativitätstheorie und Quanten-mechanik, zwei Forschungsfeldern, die bis heute nicht in Einklang gebracht werden können. Eine Theorie von allem, die sie vereinen könnte, wäre eine sensationelle Neuerung.

 

Mit diesen Überlegungen verbunden ist das Thema Zeit.

"Das hat ich beim Schneiden von Theorie von allem am meisten durcheinandergebracht, dass es kein gleiches Jetzt für zwei Individuen geben kann. ... Das Jetzt, das einer erlebt, ist sein spezifisches, es gehört ihm allein. Es ist gebunden an ihn, an seinen Ort im Raum. ...  Wenn ich hier stehe, wo jetzt etwas geschieht, ist es im selben Moment anderswo noch nicht passiert, und es gibt auch kein Wissen um dieses Geschehen. `Bleiben wir im Jetzt´, wird immer eine Lüge sein. ... Ein Wunder, wie Menschen überhaupt ein Leben miteinander gestalten können mit dieser permanen-ten zeitlichen Verzögerung. ... Wenn das, was Menschen miteinander erleben, des einen Zukunft und des anderen Vergangenheit ist - was ist es dann wirklich? Zukünftig? Vergangen?"

 

Dieser Gedankenstrudel unterliegt der Handlung und den Geschehnissen in diesem schmalen, konzentrierten Roman. Die Überlegung, was ist Zukunft, was ist Vergangenheit über-lappt sich mit der Frage, was ist Realität?

 

Thierrys momentane Realität ist das Zusammensein mit Vanessa und Evie. Außerdem die vielen Anrufe von Chris, Chef und enger Freund Thierrys, die er allesamt nicht annimmt. Sie ist ein kaum wahrnehmbares Beben, gibt es in den Alpen Erdbeben? Sie ist eine eiskalte, stürmische Nacht, ein entlaufener Kater, Evies Kater, der heimlich ins Chalet geschmuggelt wurde. Sie ist eine Art Aura des Unberühr-baren, als in der Lobby ein leerer Raum um ihn entsteht, den niemand betreten möchte. Sie besteht aus fragenden Blicken  der Hotelbediensteten, die sich wundern, warum Thierry davon spricht, dass seine Frau, die doch wohl auch hier bekannt sein müsse, im Chalet sei. Und aus den Fragen eines Herrn Selbmann, die man zunächst für die eines Paarthera-peuten halten könnte.

 

Über der ganzen, nach außen extrem idyllischen Szenerie, liegt ein Schleier, eine Bedrohung, ein Missklang, der sich in kleinen Andeutungen bemerkbar macht und sich im Lauf der Geschichte verstärkt. Wie ein näher kommendes Gewitter. 

Die sichtbare Realität bekommt Risse, man beginnt, sich zu fragen, ob Thierry in einer anderen Zeit lebt. Erlebt er wirklich dieses Wochenende mit seiner Familie, oder lebt er in einer Erinnerung? Oder einer Wunschvorstellung? Sprich, lebt er in der Vergangenheit oder in der Zukunft?

Schafft er es nicht mehr, sich in ein Jetzt, ein zumindest in der Theorie bestehendes Jetzt mit allen, die sich im gleichen Raum aufhalten, zu begeben?

 

In den konkreten, physischen Raum tritt plötzlich Chris.

Er ist ins Resort gekommen, um mit Thierry zu sprechen. 

Und ihm mitzuteilen, dass er "entlastet" sei. Wovon? Von den viel zu vielen "Zusatzaufgaben", mit denen er Thierry "zugemüllt" hat? Das kann kaum so wichtig sein, dass er die Fahrt in die Berge auf sich nimmt.

 

Etwas endet hier. Spätestens hier endet die Vergangenheit. Ein Leben, das es nicht mehr geben wird. In niemandes Zukunft.

 

"Menschen dringen in die Herzen von Atomen ein und erforschen die Tiefen des Weltalls, aber ihre eigenen Herzen bleiben ihnen unerschlossen.

Ich muss sie gründlich missverstanden haben." 

 

Der Roman spielt nicht mit den Herzen der Menschen, aber er spielt mit den Vorstellungen von Realität und Zeit.

Er ist sehr spannend, denn vieles bleibt lange in der Schwebe. Er fordert die Leser:innen und er nimmt ein erstaunliches Ende.

 

 

 

 

 

 

 

 

Michèle Minelli: Wie es endet

lectorbooks, 2024, 144 Seiten