Ian McEwan - Kindeswohl
"Am Bach auf einer Wiese war´s, wo sie mit mir stand;
Auf meiner krummen Schulter lag schneeweiß ihre Hand.
Nimm leicht das Leben, bat sie, wie Gras wächst leicht am Wehr.
Doch ich war jung und töricht und weine nun seither."
Dieses Gedicht von W.B. Yeats ( "Weidengarten") ist das Bindeglied zwischen Adam Henry und Fiona Maye.
Es schafft eine Verbindung, die nur die Poesie herstellen kann, denn sie ist eine Kraft, die außerhalb der Norm steht.
Adam Henry ist siebzehn Jahre alt, sehr intelligent, seinem Alter voraus - und an Leukämie erkrankt. Seine Eltern, gläubige Zeugen Jehovas, lehnen eine Bluttransfusion aus religiösen Gründen ab. Dem Jungen bleibt nur noch eine kurze Zeit, dann wird er innerlich verbluten.
Fiona Maye ist Richterin und diejenige, die darüber zu entscheiden hat, ob gegen den Willen der Eltern eine Transfusion angeordnet wird, sie ist die einzige Möglichkeit das Leben des Jungen zu retten.
Fiona hat 24 Stunden, um zu einem Richtspruch zu kommen.
Sie hört die Eltern, die Ärzte, die Sozialarbeiterin an und fährt schließlich in die Klinik, um Adam kennenzulernen.
Sie trifft einen Menschen, der sich seiner Sache sicher ist.
Ja, er weiß, dass er sterben wird und er will es so.
Täglich erhält er Besuch von den Ältesten der Glaubens-
gemeinschaft, sie bestärken ihn in seinem Willen, der der Wille Gottes ist.
Er schreibt Gedichte, er hat vor vier Wochen angefangen, Geige zu spielen und spielt schon ganz ordentlich.
Bevor Fiona geht, spielt er ihr Mahlers Vertonung des "Weidengartens" vor, Fiona singt dazu.
Sie weiß nun, dass der junge Mensch nicht sterben möchte. Er hatte nie die Möglichkeit ein eigenes Weltbild zu entwickeln, er wurde in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hineingeboren und in deren Sinne erzogen.
Fiona ordnet an, dass Adam die Bluttransfusion bekommt. Innerhalb kurzer Zeit geht es ihm besser, er kann wieder zur Schule gehen, ein normales Leben führen.
Er ist beeindruckt von ihrer Urteilsbegründung, er fängt an, ihr Briefe zu schreiben, die sie nie beantwortet.
Als sie sich auf Tour durch die Provinz befindet, um dort Recht zu sprechen, steht Adam plötzlich in ihrem Hotel.
Er hat sich vom Glauben losgesagt, ist mit den Eltern zerstritten und fragt, ob er bei Fiona einziehen kann.
Offensichtlich sucht er eine neue Leitfigur, nachdem er aus seinem bisherigen Lebensgefüge herausgefallen ist.
Es ist klar, dass das nicht möglich ist. Fiona bestellt ein Taxi, küsst ihn zum Abschied etwas länger als eine Mutter ihren erwachsenen Sohn küssen würde und schickt ihn weg.
Dies alles spielt sich zu einer Zeit ab, als Fiona tief in einer Ehekrise steckt. Ihr Mann Jack hegt den Wunsch, noch einmal eine ekstatische Liebesbeziehung zu erleben, bevor er zu alt dafür ist. Beide, Jack und Fiona sind Ende fünfzig.
Er hat auch schon die passende junge Frau dafür gefunden und möchte nun Fionsa Segen dafür haben. Er möchte keine heimliche Geliebte, er will mit offenen Karten spielen.
Diese beiden Erzählstränge - Fionas Privatleben und ihre berufliche Tätigkeit - umkreisen einander.
Mal wird der Leser Zeuge einer gerichtlichen Anhörung (Adam ist nicht der einzige Fall, bei dem Religion der Grund für Auseinandersetzungen ist), mal nimmt man an einer Schlacht zwischen Eheleuten teil, man gewinnt Einblick in Fionas Seele, die ein bisschen enttäuscht darüber ist, dass Jack so schnell zurückkommt, man liest auch die Briefe Adams.
Ganz am Ende, nachdem Fiona bei einer Weihnachtsfeier des Gerichts mit einem Kollegen den "Weidengarten" vorgetragen und dabei ihr Klavierspiel auf eine nie dagewesene Höhe gehoben hat, versteht sie und versteht auch der Leser das letzte Gedicht, das Adam ihr geschickt hatte.
Die letzte Strophe lautet:
Und Jesus stand auf dem Wasser, und dies sagt´er zu mir:
"Die Nixe war Satans Stimme, und jetzt bezahlst du dafür.
Ihr Kuss war des Judas, Verrat und nicht mehr umzuwenden. So soll er"
Hier endet das Gedicht abrupt, die letzten Worte kann Fiona erst aus den angefügten Notizen und Versuchen Adams zusammensetzten, nachdem sie weiß, was passiert ist.
Ganz offensichtlich ist Religion Thema des Romans.
In ihrem Urteil schreibt Fiona:
"Adam wurde in seiner Kindheit pausenlos und einseitig einer rigorosen Weltanschauung ausgesetzt und muss daher zwangsläufig von ihr geprägt sein. Es kann nicht seinem Wohl dienen, einen qualvollen, unnötigen Tod zu erleiden und zum Märtyrer seines Glaubens zu werden. ... Nach meinem Dafürhalten haben A, seine Eltern und die Gemeindeältesten einen Entschluss gefasst, der mit dem Kindeswohl von A, welches dem Gericht als oberste Richtschnur zu dienen hat, nicht zu vereinbaren ist. Vor diesem Entschluss muss er geschützt werden. Er muss vor seiner Religion und vor sich selbst geschützt werden. ..."
Fiona nimmt als Richterin die Verantwortung wahr, die ihr Beruf mit sich bringt. Sie ist bekannt für ihre Gründlichkeit, ihr feines Abwägen, sie orientiert sich an großen Vorbildern ihres Berufstandes.
Doch als Fiona erkennt, dass sie in einem ganz entscheidenden Augenblick menschliche Schwäche gezeigt hat, bricht sie zusammen.
Und diese persönliche Verantwortung eines Menschen ist das zweite und im Grunde tiefer gehende Thema des Buches.
Adams Eltern entscheiden als gläubige Anhänger einer bestimmten Religionsgruppe. Adam erkennt aber an ihren Freudentränen, als das fremde Blut in seinen Körper geleitet wird, dass sie persönlich eine ganz andere Entscheidung getroffen hätten. Sie möchten, dass er weiterlebt.
Die Gemeinschaft erleichtert ihr Leben, nimmt ihnen Entscheidungen ab, aber nicht die Verantwortung.
Das gleiche gilt für Fiona, für Jack, für jeden.
In bester angelsächsischer Manier widersprechen sich Tiefgang und Spannung in McEwans Romanen nicht.
Er vereint gesellschaftliche Probleme, psychologisch glaubwürdige lebendige Charaktere, eine Einführung in ein bestimmtes Thema in einer Geschichte, der sich der Leser nicht entziehen kann.
Ian McEwan: Kindeswohl
Übersetzt von Werner Schmitz
Diogenes Verlag, 2015, 224 Seiten
Diogenes Taschenbuch, 2016, 224 Seiten
(Originalausgabe 2014)