Carson McCullers - Die Ballade vom traurigen Café

"Wie Kinder gern anderswo schlafen als daheim, so essen sie auch gern mal an eines Nachbarn Tisch, und bei solchen Gelegenheiten benehmen sie sich gesittet und sind sehr stolz. So waren auch die Leute aus der Stadt stolz, wenn sie an einem Tisch im Café saßen. Sie wuschen sich, ehe sie zu Miss Amelia gingen, und putzten sich vor dem Betreten des Cafés anständig die Schuhe ab. Dort im Café konnten sie wenigstens für ein paar Stunden die tiefe, bittere Erkenntnis vergessen, dass der Mensch in dieser Welt nicht viel wert ist."

 

Miss Amelia Evans ist eine starke und sehr selbständige Frau. Sie hat das Haus, in dem das Café entsteht, von ihrem Vater geerbt. Anfangs führt sie seinen Laden weiter, außerdem betreibt sie eine florierende Schwarzbrennerei, sie besitzt Land und ist als reich zu bezeichnen. Sie ist einsfünfund-achtzig groß, stark und knochig, dabei eher wortkarg und mürrisch. Sie beherrscht quasi jedes Handwerk - nur mit Menschen kann sie nicht so gut umgehen. Die lassen sich nicht einfach in etwas anderes verwandeln wie Bretter oder Maiskolben. Deshalb ist es um so erstaunlicher, dass sie als eine Art Ärztin in der Stadt fungiert. Sie kennt sich aus mit allerlei Heilmethoden und behandelt ihre Patienten gut und vorsichtig. Ihr Whiskey ist von der allerbesten Art, er greift weder Leber noch Gehirn an, er wärmt wunderbar und beflügelt die Gedanken.

 

Als junge Frau geht sie eine Ehe mit einem Tunichtgut ein, der jedoch durch die Liebe zu ihr in ein Lämmchen verwandelt wird. Diese Ehe dauert genau zehn Tage, dann verlässt Marvin Macy Haus und Hof - rausgeworfen wurde er, später landet er im Zuchthaus, wie man hört.

 

Der Schauplatz ist ein kleines Städtchen im Süden der USA, es gibt dort nichts als Felder, eine Baumwollfabrik und wenn man sich amüsieren möchte, muss man drei Meilen vor die Stadt gehen, um dort einer "Rotte" von Strafgefangenen mit Fußfesseln bei der Arbeit zuzusehen. 

Auch Begräbnisse bringen etwas Abwechslung in den Alltag.

 

Miss Amelia ist dreißig Jahre alt, da taucht plötzlich ein kleiner, buckliger Mann in der Stadt auf, er behauptet Amelias Vetter zu sein. Kaum einen Meter zwanzig groß, völlig verschmutzt und halb verhungert kommt er daher.

Zu aller Erstaunen nimmt sie ihn mit ins Haus, bewirtet ihn und ist den Rest des Tages nicht mehr zu sprechen.

 

Vetter Lymon liebt Gesellschaft. Er schließt schnell Kontakt zu allen Leuten, er braucht Zerstreuung und Vergnügungen.

Miss Amelia ist wie verwandelt. Kaum ist Lymon im Haus, bricht sie die eiserne Regel, nach der niemand als sie selbst eine Flasche Whiskey in ihrem Laden trinken darf und erlaubt den Männern dort zu trinken. Sie holt Gläser und ein paar Salzkekse und so entsteht das Café.

 

Bald gibt es günstiges Essen, das Café wird größer, Amelia immer milder, Vetter Lymon Teil ihres Lebens.

 

Eine Frage bleibt für alle unbeantwortet: was gefällt Miss Amelia an dem Buckligen? Warum hat gerade er, der oft verschlagen, eitel und hinterhältig ist und gerne einen Streit anzettelt, ihr Herz erobert?

Versucht sie mit dieser Zuneigung, der ein wenig Mitleid beigemischt ist, lediglich die Einsamkeit zu vertreiben?

Der Leser weiß durch kleine Bemerkungen der Autorin, dass die Geschichte nicht gut ausgeht und erkennt in Amelias Bemühungen ihr unausweichliches Scheitern.

Sie selbst, obwohl mit vielen Fähigkeiten, Kraft, Geld und starkem Willen ausgestattet kann nicht aus der existenziellen Vereinzelung ausbrechen. Wie die Gäste ihres Cafés, die dort für ein paar Stunden den Trost der Gemeinschaft suchen, oder auch Vergessen, die gerne wahrgenommen werden möchten oder dem Gedanken nachhängen, dass der Mensch vielleicht doch etwas wert ist - sucht Amelia genauso danach?

 

Eines Tages geht das Gerücht, Macy, Amelias Zehn-Tage-Ehemann sei aus dem Zuchthaus entlassen. Nicht ganz unerwartet taucht er in der Stadt auf. Vetter Lymon (er weiß nichts von der Existenz eines Ehemannes)  sieht ihn als erster.

"Er und der Mann starrten einander an, und es war nicht der Blick zweier Fremder, die sich zum erstenmal begegnen und rasch abschätzen. Es war ein eigentümlicher Blick, den sie austauschten - wie der Blick zweier Verbrecher, die sich gegenseitig erkennen."

Lymon folgt Macy, vorsichtig und auf Abstand bedacht.

Er buhlt um seine Gunst.

 

Amelia wirft Marvin Macy nicht hinaus, er zieht in das dritte Zimmer in die Wohnung über dem Café mit ein. Es entsteht ein merkwürdiges Dreiecksverhältnis, in dem nicht die beiden Männer um die eine Frau kämpfen.

Es geht um mehr. Es geht letzten Endes um das Recht auf Leben und um menschliche Würde, um die Akzeptanz der Inselhaftigkeit des Menschen.

 

Mehrere Versuche Amelias, Macy hinterrücks loszuwerden sind gescheitert. Da fängt sie an, mit ihrem Boxsack zu trainieren. Ohne Worte braut sich für jeden sichtbar ein Gewitter zusammen, das sich in einem Boxkampf entlädt. Amelia verliert diesen nach langem und zähem Kampf.

 

Das Café schließt seine Türen, sie zieht sich in die Wohnung zurück und lässt eines Tages auch noch die Läden zunageln. Drei Jahre wartete Amelia auf die Rückkehr des Buckligen, dann sieht sie ein, dass sie auch diesen Kampf verloren hat.

Und gibt sich geschlagen.

 

Die Stadt selbst ist eine Protagonistin der Geschichte. 

Unerträglich heiß und staubig im Sommer, einsam gelegen, ohne Aussicht auf Verbesserungen, Tristesse pur.

Das Café gab ein wenig Hoffnung, aber bald ist auch das wieder vorbei.

 

In dieser Ballade spiegeln sich die schwierigen Lebensumstände McCullers (1917-1967). Schon seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr litt sie an Rheuma, was ihren Traum, Pianistin zu werden, zunichte machte, diverse Schübe und Schlaganfälle beeinträchtigten ihr Leben massiv.

Ihre Ehe mit Reeves McCullers wurde 1941 geschieden, vier Jahre später heirateten sie ein zweites Mal, 1953 nahm er sich das Leben. Sie war mittlerweile halbseitig gelähmt.

 

Die Themen Einsamkeit, Isolation, Selbstfindung ziehen sich durch ihr gesamtes Werk.

In der "Ballade vom traurigen Café" hat sie ihre Sicht auf die Welt mit meisterhaften Charakterisierungen ihrer Personen und der Atmosphäre des Südstaatenstädtchens gebündelt.

Ihr Stil ist nicht üppig oder ausschweifend, sehr konzentriert geht sie zu Werke, mit einem schlichten Satz wie z.B.

"Die Pfirsichbäume scheinen sich jeden Sommer stärker zu krümmen, und ihre Blätter sind von stumpfem Grau und krankhaft zart" sagt sie sehr viel nicht nur über die Bäume aus.


Einen Trost scheint es für die Autorin zu geben: die Kunst.

Die letzten knapp zwei Seiten des Romans sind mit

"Die zwölf Sterblichen" überschrieben. Das sind die Sträflinge, die mit Fußketten aneinander gefesselt sind und die in sengender Sonne den ganzen Tag lang Lehm hacken. Während der Arbeit singen sie. Ein einzelner fängt an, die anderen fallen ein und bald singen sie alle zusammen.


"Die Stimmen klingen dunkel durch den goldenen Glanz; ihre Melodien sind kunstvoll verwoben und halb schwermütig und halb fröhlich. Der Gesang schwillt an, bis es zuletzt so scheint, als ertöne er nicht aus den Kehlen von zwölf Männern einer Sträflingskolonne, sondern aus der Erde oder dem weiten Himmel. Es ist eine Musik, die einem das Herz aufschließt, so dass sogar der Zuhörer vor Entzücken und Furcht erschauert ...

Und was für eine Rotte ist das, die solche Musik hervorzaubern kann? Bloß zwölf sterbliche Menschen, sieben schwarze und fünf weiße Burschen aus unsrer Gegend. Bloß zwölf sterbliche Menschen, die zusammen-gehören."


In dieser Zwangsgemeinschaft hat sich das hergestellt, wovon die Stadtbewohner träumen und wozu ihnen das Café ein paar Jahre lang die Möglichkeit gab: echte, tiefe Gemeinschaft. Beide halten nur eine bestimmte Zeit.


Der Roman lässt den Leser nachdenklich, nicht unbedingt traurig zurück, dafür ist er zu gut geschrieben.








Carson McCullers: Die Ballade vom traurigen Café

Diogenes Verlag, 2009 (15.Auflage), 115 Seiten

(Originalausgabe in "Harper´s Bazaar 1943, in Buchform 1951)