Melania G. Mazzucco - Die Villa der Architektin
Welch ein grandios erzählter Roman!
Er rekonstruiert und fantasiert das Leben der römischen Malerin und ersten Architektin der Geschichte, Plautilla Bricci (1616-1705). Er taucht tief in das 17. Jahrhundert und die Welt des Barock ein, er zeigt die Macht der Päpste und deren Günstlingswirtschaft, er wirft ein helles Licht auf Kunst und Künstler - und er beschreibt in jedem Satz, wie schwierig es für eine Frau war, ihren eigenen Weg zu gehen.
Er beginnt mit einer Rückschau der Ich-Erzählerin Plautilla auf einen Ausflug mit ihrem Vater ans Meer, den sie als Siebenjährige unternahm. Ein Wal war gestrandet, ein Zahn dieses "Wesens aus einer anderen Welt" lag hernach auf Vaters Schreibtisch: "Er ist ein Versprechen, verstehst du? Auch die Dinge, die wir nicht kennen, existieren irgendwo. Wir müssen sie suchen oder erschaffen."
Mehr als achtzig Jahre später sagt sie: "Ich erinnere mich nicht mehr an seine Stimme, nicht einmal an seine Gesichts-züge, denn ich habe auch das Buch verschenkt, in dem sich sein Porträt befand. Doch wo er auch sein mag, ich würde ihm gern sagen, dass auch ich das Versprechen gehalten habe."
Sie hat das unmögliche geschafft, sie hat sich selbst als Architektin einer Villa und einer Kapelle erschaffen.
Im einem zweiten Auftakt vor dem eigentlichen Roman ist sie bei der Grundsteinlegung der Villa Benedetta zu sehen.
"Ich war überwältigt von der Tatsache, dass ich bei der Taufe gleichzeitig Priesterin, Patin und Mutter war." Es zählt nicht der Vers, der in die Platte eingraviert ist, "für mich zählte nur die letzte Zeile. Mein Name."
Der Roman zeigt zunächst die Familie, Plautilla als Tochter. Armut bestimmt das Leben, viele Umzüge finden statt, um Mietschulden zu entgehen. Von mehreren Geschwistern überleben die fünf Jahre ältere Albina und der jüngere Bruder Basilio, auch er wird Maler werden. Der Vater ist ein Multitalent, er schreibt Theaterstücke und Lieder, bringt als Journalist Neuigkeiten unters Volk, betätigt sich als Mathematiker, Buchillustrator, vor allem ist er jedoch Maler.
Er wird der erste und wichtigste Lehrer Plautillas.
Und er strickt eine Legende, die zu ihrer Berühmtheit beträgt: das Antlitz der "Jungfrau mit Kind", ein frühes Bild Plautillas, habe "sich selbst fertig gemalt"!
"Dieses Wunder würde mich dabei unterstützen, mir einen Namen zu machen."
Es wirkt. Es macht die Malerin bekannt - was längst nicht bedeutet, dass sie anerkannt ist. Das Bild wird später zu einem Ort der Gebete, das weitere Wunder bewirkt.
Es führt auch zu der Begegnung mit Schwester Eufrasia, die die junge Malerin um ein Porträt ihres Bruders Elpidio bittet.
Elpidio Benedetti wird zu Plautillas großer Liebe, doch die Malerin und der Abt werden kein herkömmliches Paar.
Elpidio tritt in die Dienste Kardinal Mazzarins, der von Rom nach Frankreich ging, dort zu einem der mächtigsten Männer Europas aufstieg, tief fiel und als Paradebeispiel eines Ränkeschmieds gesehen werden kann.
Mit der Figur des Elpidio begibt sich die Autorin sehr tief in die Politik der Päpste, es wird deutlich, wie sie das Leben aller bestimmen, ihrer Untergebenen, ihrer Feinde, jedes ganz normalen Menschen.
Elpidio wird zum Schatten Giulio Mazzarins, "einer Reinkar-nation des Teufels", lebt in Frankreich oder in Rom, immer auf Abruf. Es gibt Phasen, da treffen sich die Liebenden heimlich in Weinkellern oder Kutschen, es gibt Zeiten, da leben sie zusammen. Dann wieder sehen sie sich lange nicht.
Eines der eindrücklichsten Kapitel des umfangreichen Romans, der im Original 2019 erschien, ist das über die Pest. Es scheint die Lockdowns und Grausamkeit der Coronazeit zu spiegeln.
Für die Malerin bringt die Pest, so paradox es klingt, eine Zeit der relativen Freiheit.
"Noch bevor die Pest uns infizierte, entstellte und tötete, nahm sie uns unsere Sicherheiten. Unsere Identität. Die Pflicht. In gewisser Weise befreite sie uns von uns selbst.
Die Pest befreite Abt Benedetti. Und sie würde auch mich befreien."
Den Herbst des Pestjahres verbringen die beiden in Elpidios Villa. Diese Zeit endet abrupt mit einem "Danaergeschenk" Mazzarins, das sie zwingt, sich zu trennen. Erst nach dessen Tod kommen sie wieder zusammen und Elpidio beschließt, nun eine eigene Villa zu bauen. "Villa Benedetta würde unsere Tochter sein."
Nach der Einweihung wird die Architektin sie nicht mehr betreten.
Die Geschichte des (Nicht-)Paares spiegelt die Macht der Umstände - als Künstlerin konnte sich Plautilla daraus befreien, als Frau nicht.
Durch den Roman ziehen sich Gedanken zu Kunst und Ästhetik, Wissenschaft und Religion, Lüge und Wahrheit, Treue und Verrat, Künstlerbiografien, die unterschiedlichen Welten der Frauen und Männer, Abschied und Verlust, der Tod vieler Familienmitglieder. Er ist ein Panorama eines reichen Lebens, das unter einem ungünstigen Stern stand: dem, eine Frau zu sein. Der Aussage, "Frauen eignen sich nicht zur Kunst. Genauso wenig übrigens wie zur Musik und zur Philosophie" setzt sie ihr Leben entgegen:
"Irgendjemand macht immer etwas zum ersten Mal, es ist nur eine Sache der Gewohnheit ... Sitten beruhen auf der Menge an Meinungen. Gesetze und Gewohnheiten ändern sich mit den Meinungen. Man muss nur Mut haben."
Die Villa "konnte das Symbol eines epochalen Wandels sein, ein Aufbruch für alle Frauen", so die Architektin, die selbst dieses Wort erst einmal erfinden musste, bei der Grundstein-legung.
Melania G. Mazzucco, eine vielfach ausgezeichnete Autorin mit einer Vorliebe für historische Stoffe, hat akribisch recherchiert, um die Geschichte der Künstlerin Plautilla Bricci zu rekonstruieren. "Namen, Fakten, Daten und Orte sind .. historisch".
"Jahr für Jahr" fügte die Autorin "Splitter aneinander", die "glückliche und schmerzvolle, entscheidende oder unwich-tige Augenblicke ihres langen, gemeinem, heroischen und merkwürdigen Lebens beleuchten ..."
So entstand ein Roman, der ein Frauenleben und ein Jahr-hundert evoziert. Der durch die Form der Ich-Erzählung sehr konzentriert auf den Blick der Protagonistin, durch die Einbindung in die Historie aber weiträumig, interessant, beeindruckend ist. Es ist eines jener Bücher, bei denen man immer langsamer liest, um nicht so bald am Ende anzukommen.
Ganz große Empfehlung!
Melania G. Mazzucco: Die Villa der Architektin
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Folio Verlag, 2024, 463 Seiten
(Originalausgabe 2019)