Koike Masayo - Das Sperlingshaus

Fantastische Geschichten aus Japan

In diesem Band erscheinen erstmals Erzählungen einer der renommiertes-ten Autorinnen Japans auf Deutsch.

Sie ist auf vielen Feldern der Literatur tätig: Gedichte, Essays, Rezensionen und Übersetzungen aus ihrer Feder wurden mit wichtigen Preisen ausge-zeichnet, hervorgehoben werden stets  Themenvielfalt und Stoffreichtum.

 

In den sechs hier versammelten Erzählungen kreist sie jedoch vor allem um ein Thema: die unterdrückten Bedürf-nisse und Begierden von Frauen.

 

Die umfangreichste Geschichte ist die titelgebende: "Das Sperlingshaus". Die Protagonistin ist Besitzerin eines Vorhanggeschäfts. Die Fünfzigjährige ist alleinstehend, Eltern und Schwester (deren tragisches Schicksal in der Erzählung "Die Gehörnte" erzählt wird) sind bereits gestorben. Sie hat sich in ihrer Einsamkeit eingerichtet, erwartet nicht mehr viel vom Leben.

Eines Tages betritt Herr Takizawa ihr Geschäft und bestellt Vorhänge, ein alltäglicher Vorgang. Ungewöhnlich ist, dass er die "nach Sonnenuntergang" terminierte Lieferung mit der Einladung zu einer "kleinen Party, zu der viele Leute kommen", verbindet. "Wenn es Ihre Zeit erlaubt, können Sie gerne bleiben und etwas essen und trinken."

Sie wird immer wieder hingehen, denn die Partys finden regelmäßig statt. Ein strahlender Junge von acht Jahren, der sich benimmt wie ein Herrscher und bis in die Morgen-stunden bei den Festen anwesend ist und die ungewöhn-lichen Muscheln, die dort angeboten werden, ziehen sie magisch an.

 

"Während ich die Kaldaunenmuscheln ansah, wurden meine Wünsche und Begierden sichtbar. Wie die anderen Gäste nahm ich einen Teller und rannte hin. Ich schämte mich meiner Wildheit, hatte ich mich allerdings beim Anblick der Muscheln nicht mehr in der Gewalt. ... Das Gefühl, dass in meinem Herzen etwas Obszönes aufstieg, und das noch wegen eines Kindes, brachte mich aus der Fassung. Wenn man hierherkam, wurden alle möglichen Begierden bloßge-legt. Meine Gedanken gingen so weit, dass ich überlege, wie hässlich meine Begierden wohl aussehen würden, wenn sie für die anderen sichtbar wären."

 

Als die Aufforderung "heute Abend heißt es arbeiten" ausge-sprochen wird, wird eine weitere Tür in ein Reich geöffnet, das Rätsel hervorruft. Gruben im Garten, Säcke mit etwas Weichem darin, die vergraben werden. Vogelgezwitscher am Morgen. Eine Einladung von Herrn Takizawa in seinen Privatbereich und seine Erzählung eines bekannten Märchens - in seiner sehr persönlichen Version - führen die Erzählerin vollends hinaus aus der Realität. Beziehungsweise diese verschränkt sich so sehr mit Träumen und Albträumen, dass nicht mehr zu erkennen ist, in welcher Welt sie fortan lebt.

 

Irgendwann stellt sie fest, dass sie ihr "altes Ich entsorgt" hat. "Ich fand es genug, Herrn Takizawa zu dienen und hier bleiben zu können, und hatte dabei sogar meine Angst vor dem Tod verloren."

 

Die Angst vor dem Tod ist ebenfalls ein Thema, das Koike Masayo tief in ihre Erzählungen einflicht.

In einer Geschichte kommt er wie ein lang ersehnter Orgas-mus daher, erst im Moment des Todes findet die Vereinigung mit dem lange Geliebten statt - buchstäblich, denn er stirbt genau im gleichen Moment.

 

In einer weiteren Erzählung fantasiert sich die Hauptfigur zu einem Feldhasen: "Ich bin ein Feldhäschen. Ein süßes Feld-häschen. Ohne Freunde, ganz allein."

Sie hatte sich in den Wald zurückgezogen, nachdem ihre Schreibblockade nicht enden wollte und sie ihre "Waldge-schichten" nicht mehr weiterschreiben konnte. Szenen daraus begegnen ihr in ihrem Waldleben, auch hier um-schlingen sich Realität und Fantasie auf intime Weise.

 

In allen Geschichten tauchen Tiere auf, die nicht nur  Eigenschaften verkörpern, wie man es aus Märchen kennt, sondern ganz bestimmte Aspekte der Figuren fortspinnen.

Sie begleiten den Umsturz von Gefühlen, der sich kaum merklich ganz langsam ankündigt und sich dann unerwartet vollzieht. Diese Art des Aufbaus und der Entwicklung macht die Erzählungen der 1959 geborenen Autorin einzigartig. Obwohl man spürt, etwas bahnt sich an, wird man als Leser:in von den Geschehnissen überrascht und fragt sich, wo genau der Kipppunkt war. Nicht immer lässt sich dies genau feststellen, denn das, was hinaus aus der Realität trägt, baut sich lange auf wie eine Welle, die plötzlich bricht.

 

Realität und Traum sind aufs Engste verknüpft, es wird müßig, sie zu unterscheiden, denn für die Menschen in diesen Geschichten ist die Fantasie die Wirklichkeit.

 

Liegt das daran, dass die Frauen in diesen Geschichten ihre Wünsche über Jahre und Jahrzehnte konsequent unter-drückten? Dass sie ihre Vorstellungen nie auslebten?

Dies mag jede Leser:in selbst beantworten, aber die themati-schen Schwerpunkte legen für mich diesen Schluss nahe.

Denn mehrere Erzählungen enden mit dem physischen Tod der Protagonistin, nachdem das Animalische ausgebrochen war. Andere verfallen wieder in eine trügerische Ruhe, die auch als eine Art Tod gelesen werden kann.

 

Doch die vielschichtigen Geschichten lassen mehr als eine Lesart zu.

In "Feuerwerk" heißt es: "Ob sie nur Theater spielte, konnte niemand, nicht einmal sie selbst, erklären."

Die Erzählungen Koike Masayos sind im besten Sinne Welttheater!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Koike Masayo: Das Sperlingshaus - Fantastische Geschichten aus Japan

Mit Illustrationen der Autorin

Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Isolde Kiefer-Ikeda

iudicium Verlag, 2024, 242 Seiten

(Originalausgaben zwischen 2012 und 2020)