Jakub Malecki - Beben in uns
Über siebzig Jahre, von 1938 bis 2004 und drei Generationen erstreckt sich dieser intensive, in der polnischen Provinz spielende Roman. Er wirft die großen Fragen auf: Gibt es ein unentrinnbares Schicksal? Hat der Mensch einen freien Willen? Wieviel Unglück kann ein Mensch ertragen, bevor er beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen? Kann die Unglücks- spirale durchbrochen werden?
In zwei Familien taucht Jakub Malecki ein, beide leiden unter einem Fluch.
Da sind Janek und Irena mit ihren beiden Söhnen Kazimierz und Wiktor. Irena war schwanger mit dem Jüngeren, als Janek nach Abzug der Deutschen von Frau Eberl dazu bestimmt worden war, sie und ihre Töchter bis zur deutschen Grenze zu begleiten. Frau Eberl hatte im elterlichen Haus Janeks gewohnt, nachdem diese ins Deutsche Reich ausgesiedelt worden waren. Nun geht der Treck auf der Flucht vor der Roten Armee in Richtung Westen. Janek hat Angst, bei dieser Flucht getötet zu werden. Er läuft weg.
"Als er weglief, hörte er noch, wie die Frau ihn verfluchte, wie sie ihm den Tod wünschte, ihm und Irena, und dass seine Frau einen Teufel zur Welt bringt und kein Kind, Satan, nicht dziecko, schrie Frau Eberl, während Janek weglief."
"Kurz darauf kam ein kleines, farbloses Ungeheuer zur Welt. ... Der Junge war von den Augenbrauen bis zu den Fußnägeln weiß. Nur die Pupillen waren rot..."
Dass er ein Albino ist, erfährt Wiktor erst viel später, von einer in Amerika lebenden Tante. Was er von Anfang an täglich erfährt, ist Spott, Häme, Bedrohung. Er stirbt beinahe bei einem Überfall, die Dorfbewohner lasten ihm das Unglück an, das über das Dorf hereingebrochen ist. Dieser Anschlag ist nicht der letzte, der auf ihn verübt wird.
Und Janek leidet unter starken Schuldgefühlen, weil er Frau Eberl im Stich gelassen hat, bis zu seinem Lebensende quälen ihn Alpträume. Er kann kein freies Leben führen mit dieser Last.
Irena wird sich später nach einem einmaligen Fehltritt, von dem sie nicht einmal weiß, warum sie ihn begangen hat, fragen, ob all das Unglück, das sich noch zu Wiktors Anders-artigkeit addiert, eine Strafe ist.
Die andere Familie sind Bronek und Helena Gelda. Sie heiraten 1938, vier Jahre später kommt Emilia zur Welt. Eine junge zyganka prophezeit Bronek kurz nach Emilias Geburt: "Die Hölle wird dein Kind auffressen und wie einen Fetzen ausspucken!"
Wenige Jahre später erleidet Emilia bei einem Brand, ausgelöst durch die Explosion einer Granate aus dem Krieg, schwere Verbrennungen. Sie überlebt, trägt aber Narben am ganzen Körper davon. Wird sie jemals einen Mann finden und glücklich werden?, fragen sich die Eltern. Bronek sucht die Roma ein zweites Mal auf, hört, dass er bereit sein müsse, seine "Augen herzugeben", damit die Tochter einen Mann findet, der sie liebt.
Sie wird diesen Mann finden, Bronek wird sein Augenlicht verlieren. So, wie Janek seine Beine verlieren und auf einem Feld nahe seines Hauses sterben wird. Auf diesem Feld wird sein Sohn Wiktor sein Leben lassen, seine Frau Emilia wird noch vor der Geburt ihres ersten Kindes Witwe. Sie zieht Sebastian alleine groß, eine gewisse Unterstützung erfährt sie von Kazimierz, ihrem Schwager.
Mit solchen Ausblicken auf die Zukunft arbeitet Jakub Malecki im ganzen Roman. Das nimmt ihm nichts von seiner Spannung, im 'Gegenteil. Spannend ist, wie es zu dem kommt, was der Autor `prophezeit´, der mit diesen Hinwei-sen in die Zukunft seiner Figuren schaut. Deren persönliche Geschichten sind eingebettet in die Historie Polens, die wie ein Gemälde stets im Hintergrund vorhanden ist und mit erzählt wird. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf den Menschen, deren Geschicke Malecki äußerst klug mitein-ander verknüpft.
So entwickelt er aus einer keinen Nebenfigur eine wichtige Stimme, die Sebastian am Ende des Romans über die Umstände von Wiktors Tod aufklären kann. Er ist der Einzige, der weiß, warum dieser gute Mensch starb, er weiß auch, wie. Und warum Kazimierz den Mörder seines Bruder nie fand.
Gewalt, die Frage, was mit einem Menschen passiert, der Gewalt ausgeübt hat, spielt ebenfalls eine große Rolle in diesem Roman.
Da gibt es Fetzling, einen ehemaligen deutschen Polizisten, der sich in einem Graben versteckt und der auf Polnisch zu Wiktor sagt:
"Töten, das ist wunderbarste, herrlichste Sache auf Welt. Das kann nicht beschreiben."
Wiktor hat schon eine Katze beinahe erwürgt, sein Vater glaubt, er hätte auch die Eule Bescheuerte, die für die Familie eine spezielle Bedeutung hat, getötet. Mehrere Tiere kommen (fast) zu Tode, der Pfarrer wird erschossen, Männer gehen mit verschiedenen Gerätschaften aufeinander los - zu dem Unglück, das das Schicksal bereit hält, kommt das menschen-verursachte. Dazu gehören auch die wirtschaftliche und politische Situation im Krieg, unter dem Kommunismus, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Sebastian erliegt den Verlockungen des schnellen Geldes.
Er ist nach Posen gezogen, um zu studieren, gibt das Studium aber nach einem Semester auf. Es gibt schnellere Wege zum Reichtum. Zu seinem unausgefüllten und haltlosen Leben mag auch eine geistige Wurzellosigkeit beitragen.
2004 fährt er zum ersten Mal nach Piolunowo, dem Dorf, in dem die Großeltern lebten:
"Und jetzt war er in Piolunowo und überlegte, wie es sein konnte, dass er früher nie hierhergekommen war, nie seine Mutter gefragt hatte, warum sie den Onkel nicht besuchten, nicht zum Grab der Großeltern fuhren, als ob das alles in ihrem Leben nicht existierte."
Nun schaut er sich das Feld an, auf dem sein Großvater und sein Vater starben. Er besucht den Friseur, der ihm die Geschichte Wiktors erzählt und er wird an fast derselben Stelle, an der seine Großmutter Irena von einem Fahrrad angefahren worden war, von einem Auto erfasst. Der Unfall gab Irenas Leben eine andere Richtung, Sebastian wird es ebenso ergehen.
Das, was ihm auf dem Nachhauseweg durch den Kopf geht, ist eine lange, poetische Passage, die die vielen vielen Aspekte des Romans Revue passieren lässt und eine Reflexion dessen ist, wie alles mit allem zusammenhängt. Wie es sich für die Familien Gelda und Labendowicz gefügt hat oder was sie zerrissen hat.
"Der Fluss, den es nicht gibt, umspült Frauen und Männer, Kinder und Alte, Lebende und Tote. In ihm schwimmen Schreie und Seufzer, Befehle und Flehen, Gejammer, Gesang, Flüstern und Lachen. In ihm schwimmen der Atem Emilias, die sich an Anatol Zurawiks Körper schmiegt, und die Stimme von Kazimierz, der die regungslose Eule rügt. In ihm schwimmt der Gesang der zweiundvierzigjährigen Zofia Labendowicz .... der Husten Dojkas, ... der Atem Sebastian Labendowiczs, der hinter dem Haus von Onkel Kazimierz die auf ihn wartende Maja erblickt."
Maja Eberl, geboren 1980, sie könnte eine Nachfahrin Frau Eberls sein, der Name könnte auch Zufall sein. Diesen gibt es neben dem Schicksal auch noch.
Jakub Maleckis Roman ist eine Wucht. Er breitet Helenas Gedanken, " dass alles immer schlimmer geworden sei und werden würde" in einem Epos aus, das von Unglück bibli-schen Ausmaßes erzählt, von der Schwäche der Menschen, aber auch von ihrer enormen Stärke. Von Glaube und Aber-glaube, die gleichermaßen gepflegt werden.
Er porträtiert Menschen wie Landschaften präzise, führt die vielen ausgelegten Fäden zusammen und beeindruckt durch seinen so feinen wie kraftvollen Stil.
Joanna Manc hat den Roman mit seinen verschiedenen Tonlagen wunderbar ins Deutsche übertragen.
Eine Entdeckung!
Jakub Malecki: Beben in uns
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
Secession Verlag, 2023, 360 Seiten
(Originalausgabe 2015)