Molly MacCarthy - Kleine Fliegen der Gewissheit

Eine Kindheit im neunzehnten Jahrhundert

"Mr Shorthouse schenkt meiner Mutter die größte Aufmerksamkeit. Ganz in meta-physische Spekulationen versunken, wirkt sie wie ein Fisch, der aus dem Fluss des Zweifels springt, um einige kleine Fliegen der Gewissheit zu erhaschen." So bildlich, frisch und ungezwungen liest sich das ganze Buch, in dem Molly MacCarthy (1882-1953) von ihrer Kindheit am Ende                                               des Viktorianischen Zeitalters erzählt. 

 

"Ich wurde in den Achtzigern in behütete, äußerst behagliche religiöse und literarische Kreise hineingeboren."

 

Als siebtes von acht Kindern genießt sie große Freiheit und vor allem viele Anregungen. Es wird viel musiziert und (vor)gelesen, es werden Besucher empfangen und Besuche gemacht. Auch wenn die Eltern stets den finanziellen Ruin fürchten, pflegen sie einen aufwändigen Lebensstil, in dem es weder an Vergnügungen, noch Reisen oder Privatlehrern mangelt. 

 

Mollys Vater ist Vize-Schulleiter der Privatschule Eton, sie  beschreibt ihn als "sehr zurückhaltend, großmütig und freigiebig".  

Ihre Mutter Blanche ist eine "sehr einnehmende, aber über-empfindliche und exzentrische Persönlichkeit". Sie schreibt, verliert sich in Tagträumen, "war uns Kindern gegenüber immer sehr zerstreut und geistesabwesend". Und doch liebe- und fantasievoll, den Kindern viel Raum lassend, so dass auch diesen viel Zeit für Spiele und Tagträume blieb.

 

Bis die Mutter eines Tages die Idee hatte, es müsse "etwas hinsichtlich einer besseren Erziehung der kleinen Molly" unternommen werden. Sie kam in eine Schule der Barmher-zigen Schwestern, einer Mädchenschule, in der alles, wirklich alles, anders war als zu Hause. Sie empfindet die Schule als "Festung", in die sie "eingekerkert wird", in der sie Hunger und Kälte erdulden muss, in dem Heimweh zu einem "chronischen Schmerz" wird. Doch eine Art Erweckungs-erlebnis, bei dem sie der Orgel und Gregorianischen Gesängen lauscht, führen zu der Entscheidung, von nun an "so fromm und gottergeben wie nur irgend möglich zu sein" - Molly versenkt sich in die Religion.

 

Nachdem sie das turbulente Familienleben mit seinen vielen unterschiedlichen Charakteren beschrieben hatte, taucht die Autorin nun in die viktorianisch- puritanische Religiosität mit all den daraus erwachsenden Zweifeln und Konflikten, sowie den Versuchen, diesen zu entfliehen, ein. 

Sie gibt Einblick in das Seelenleben eines Mädchens, das  leidet, sich aber behauptet. Im Rückblick schreibt sie:

"`Wo die Ziege angebunden ist, da muss sie weiden´, lautete unser Motto und zu rebellieren zählte damals leider - und dumm für mich - noch nicht zu den Markenzeichen einer verheißungsvollen Jugend."

 

So unerwartet, wie sie zu den Barmherzigen Schwestern kam, so überraschend darf Molly wieder nach Hause.

Sie ist dreizehn wird nun von ihrer Schwester Margaret unterrichtet. 

 

Ihr Blick schweift jedoch oft und immer häufiger hinaus, hinüber zu den Jungen, die das Internat besuchen und sich draußen tummeln. Damit begibt sich die Autorin in die Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, mit seinen Aufregungen, Beschränkungen, Begegnungen. Bald verliebt sie sich, vergisst ihre Liebe aber bei einer Reise nach Berlin. Bei einem Tanz in London, wo die Familie das Jahresende verbringt, begegnet Molly erstmals dem jungen Journalisten MacCarthy:

 

"Er scheint unbegrenzt Zeit zu haben und auch wenn er durchs Leben wandelt, als wäre es eine einzige Ausstellung, ... wirkt er doch nicht im Geringsten durch Müßiggang verdorben. ... Er scheint uns den Kopf freizumachen vom sozialen Druck und der Steifheit unserer Kreise in Eton." 

 

Mit dem Tod Königin Victorias 1905 geht eine Ära zu Ende.

"Doch ist es uns in dieser Phase unseres Lebens nicht möglich, `das Pathos, mit dem das viktorianische Zeitalter zu Ende gegangen ist´, zu empfinden. Der Tod einer sehr alten Königin verschafft uns die in unserem Leben einzigartige Gelegenheit eines verwegenen Vergnügens an unserer rabenschwarzen Trauer."

 

Ein verwegenes Vergnügen muss für Molly MacCarthy auch das Schreiben dieses Buches gewesen sein - so liest es sich jedenfalls. Es ist überaus humorvoll, sie blickt offen und völlig ohne Groll auf ihre Kindheit, selbst auf das dunkle Kapitel ihrer Schulzeit im Kerker der Religion. Es kommt kein Wort der Missbilligung über ihre Lippen, sie hat die Gabe, alles interessant zu finden und unvoreingenommen zu betrachten. 

 

Ihre Cousine Virginia Woolf  schreibt über Mollys Buch:

"... dieses kleine Buch ist der Versuch, jenen schillernden und flatternden Schmetterling und jedwedes andere kuriose viktorianische Insekt einzufangen ... Die Fäden des Netzes scheinen eher tastend, eher zaghaft, eher amateurhaft zu sein. Erst wenn das Buch zu Ende ist, erkennen wir, auf welch wunderbare Weise die Insekten mit dem Wurf einer Wendung eingefangen wurden."

 

Molly MacCarthy beherrscht die Kunst des Understatement perfekt. Vielleicht ist sie, obwohl Mitglied der legendären Bloomsbury Group, keine avantgardistische Schriftstellerin, aber eine sehr treffsichere und fantasievolle. Ihre Personen-beschreibungen suchen ihresgleichen und auch die Darstellung  des Alltäglichen, wie beispielsweise eines Hustens, wird bei dieser Autorin zu einem Ereignis.

Lust- und humorvoll betrachtet sie ihre "viktorianischen Insekten", sieht ihre Stärken und Schwächen. Sie spießt sie jedoch nicht mit der Nadel auf, sondern bannt sie wort- und bildgewaltig mit spitzer Feder  auf Papier.

 

Das "kleine Buch" wurde flüssig übersetzt von Tobias Schwartz, der auch die fundierte Einführung verfasste.

Außerdem ergänzt "Der Fußboden des Schulzimmers" von Virginia Woolf  die schöne Ausgabe, diesem Essay entstammt das obige Zitat. 

 

Leider ist Molly MacCarthy hierzulande bisher eher in Fachkreisen bekannt, hoffentlich ändert sich dies mit den "Kleine(n) Fliegen der Gewissheit". Es ist überaus köstlich!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Molly MacCarthy: Kleine Fliegen der Gewissheit

Eine Kindheit im neunzehnten Jahrhundert

Herausgegeben und aus dem Englischen von Tobias Schwartz 

Mit einem Essay von Virginia Woolf

AvivA Verlag, 2024, 160 Seiten

(Originalausgabe 1924)