José Carlos Llop - Der Bericht "Guillermo Stein"
Dieser im Jahr 1968 in Palma spielende Kurzroman verwebt das Leben Pablo Ridorsas, eines jungen Schülers des Jesuitenkollegs, mit der Geschichte der Insel. José Carlos Llop beleuchtet mit eigensinnigen Lehrern und deren fragwürdigen Methoden den nach wie vor faschistischen Geist der Zeit.
Mit der Familiengeschichte des Ich-Erzählers Pablo und der eines neuen Mitschülers geht er weit in die Geschichte der damals noch erzkonservativen Insel zurück und zeigt, wie lebendig die Vergangenheit noch immer ist.
Die Vergangenheit bestimmt das Leben des mitten im Schuljahr auftauchenden Guillermo Stein, und im Lauf des Romans schält sich langsam heraus, wie sie sich auf das Leben Pablos auswirkt.
Pablo lebt bei seinen Großeltern. Seine Eltern sind immer auf Reisen, sie sind für ihn "Postkarten". Jeden Abend öffnet er die Schachtel, in der er die Kartensammlung aufbewahrt und schaut sie sich an. Er weiß nicht, warum die Eltern nicht in Palma leben, er bemerkt nur, wie sich der Blick seiner Großmutter verfinstert, wenn sie die Karten betrachtet.
Mit finsterem Schweigen reagieren seine Großeltern als Pablo von Guillermo Stein erzählt, nur diesen Namen erwähnt.
"Das Wort (Stein) schien mir zum ersten Mal wie das Zischen einer Kobra oder das Pfeifen einer Kugel, bevor sie ins Schwarze trifft. Und es schien mir, als klänge es auch für sie nach etwas, das man nicht sehen kann und von dem Gefahr ausgeht."
Den Mitschülern Palou und Planas ist Guillermo ebenfalls suspekt, denn dieser stellt sich so vor:
"Mein Vater war mit Graf Ciano befreundet und ich bin Geheimagent Seiner Heiligkeit."
Ein Spion des Papstes? Sein Vater ein Freund des Mannes, der "die Italianisierung der Insel plante"?
Cianos "Pläne ... bestanden darin, Mallorca in eine Militär-basis und einen Erholungsort für die italienischen Faschistenchefs zu verwandeln. ..."
Das verlangt einen "schriftlichen Bericht".
José Carlos Llop, geboren 1956 in Palma und international ausgezeichnet, erzählt aus dem Alltag Pablos und seiner Freunde, der zu weiten Teilen von der Schule bestimmt ist.
Er erzählt von Familienritualen, von den "Expeditionen" der Jungen in die Stadt, von der ersten Verliebtheit.
Doch der Roman ist auf die Enthüllungen zugespitzt, die der "Bericht" liefert. In ihm werden Helden demontiert, von Denunziationen berichtet, Familiengeheimnisse gelüftet und vom langen Arm des Faschismus in Spanien berichtet.
Interessanterweise stellt Llop am Ende die Frage, wie weit es möglich ist, überhaupt etwas über einen anderen Menschen zu wissen:
"Ich (Pablo) stellte fest, dass ich nichts über ihn (Guillermo) wusste, dass weder Planas noch Palou etwas über ihn wussten, auch wenn sie das glaubten. Und da kam mir der Gedanke, dass das Leben vielleicht genau das war: Nichts über irgendjemanden zu wissen, nicht einmal über sich selbst, und dabei so leben, als wüsste man es."
Dieser Gedanke passt zu dem versöhnlichen Ende, den die Geschichte für Pablo nimmt. Er lässt die Kindheit vollends hinter sich, sie endet in diesem Sommer des Regens und der Überraschungen. Der Gedanke bereitet außerdem das dritte Kapitel des klugen und lesenswerten Romans vor, das aus nur vier Zeilen besteht und den "Bericht Guillermo Stein" beschließt.
José Carlos Llop: Der Bericht "Guillermo Stein"
Aus dem Spanischen von Christiane Quandt
Kupido Verlag, 2022, 96 Seiten
(Originalausgabe 1995)