Michael Lichtwarck-Aschoff -
Als die Giraffe noch Liebhaber hatte
Vier Entdeckungen
Vier große französische Entdecker des 18. und des 19. Jahrhunderts.
Bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse und hinter diesen vier Männer, die noch mit einem Bein in vorwissenschftlichen Zeiten stehen, die mit der politischen Stimmung konfrontiert sind - und dahinter Frauen, die in keiner Geschichte der Medizin, Chemie oder Biologie auftauchen, für den Fortschritt aber äußerst wichtig waren. Sie alle kommen in diesen blendend geschriebenen literarischen Essays zu Wort.
Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844) war Professor am Naturkundemuseum Jardin du Roi in Paris. Er vertrat die Theorie, dass Wirbeltiere und wirbellose Tiere einem gemeinsamen Bauplan folgen, dass es also in der Natur eine Entwicklung gibt, in der alle Lebewesen einen Platz haben.
Damit gab er der Evolutionstheorie entscheidende Anstöße.
Er hat die wilden Tiere aus Afrika in den Garten gebracht,
für jedes Tier einen Wärter angestellt und so den Menschen in Paris ein faszinierendes Stück Wildheit vorgeführt.
Eine zweischneidige Angelegenheit:
"So wie man die ungeheure, anmutige Giraffe bezwang,
so hatte man Afrika bezwungen. Und so würde man die Wildheit in sich selber bezwingen. So musste es sein."
Im Pariser Akademiestreit um 1830 unterlag Hilaire seinem Gegner Georg Cuvier, der sich vehement gegen den Gedanken der Entwicklung ausgesprochen hat.
"Cuvier war der Meinung, Gott habe alles so herrlich eingerichtet, dass es nichts mehr zu verbessern gebe."
Die politische Dimension dieser Aussage ist: "Was oben war, blieb oben, und was unten war, blieb unten."
Gegen diese Ansicht half keine Beweisführung Hilaires.
Dabei hatten sie gute zehn Jahre zuvor sehr gut zusammen gearbeitet. Im Jahr 1816 öffneten die beiden Forscher gemeinsam die Leiche Zarah Baartmans.
Diese aus Südafrika stammende Frau war die zu ihrer Zeit berühmte "Hottentottenvenus", die zuerst in London, dann
in Paris zur Schau gestellt wurde. Nach ihrem Tod wurde
sie seziert und teilweise in Eau de Vie konserviert.
Vor allem ein Körperteil faszinierte die Forscher:
ihre anscheinend herabhängenden inneren Schamlippen,
die sogenannte Hottentottenschürze.
Im "Beipack" zu einer Giraffenhaut kam Zarah 1810 nach Europa. Ausgestellt war sie in derselben Rotunde, in der auch Zafara zu bewundern war. Zafara wurde Liebe entgegengebracht, sie wurde mit Respekt behandelt.
Zarah war ein reines Forschungsobjekt.
"Wir Menschen haben uns aus primitiven zu immer höheren Stufen entwickelt. Das sollte Zarah Baartman beweisen. ..."
Heute, mit knapp siebzig Jahren, zu diesem Zeitpunkt spielt die Geschichte Lichtwarck-Aschoffs, "schämte er sich dieses Irrtums. Zarah Baartman stand nicht tiefer als er selbst oder Cuvier, Atir oder Charcot. Es gab unterschiedliche Rassen, darunter solche mit einem ziemlich ausgeprägten Hinterteil oder dunkler Haut. Aber innerhalb der Menschenrassen war die biologische Entwicklung zum Stillstand gekommen.
Es gab nur eine kulturelle Höherentwicklung. Keine Rasse stand aus biologischen Gründen tiefer als eine andere. Vielleicht war der Mensch ja sogar öfter als einmal entstanden."
Die Geschichte endet in einem Fanal, ausgelöst durch den Wärter Atir und seine Kameraden, die wie Schatten in der Unterwelt der Tierkäfige gelebt hatten.
Hilaires Erkenntnis von der Gleichheit der Menschen, der Ebenbürtigkeit verschiedener Erscheinungsformen, hatte sich noch nicht im täglichen Leben etabliert.
Während in dieser ersten Erzählung neben der Wissen-schaftsgeschichte vor allem die geistigen Auswirkungen der Kolonialgeschichte Thema sind, wirft der zweite Teil mit dem Titel "Das unangemessene Speckhemd" einen Blick auf den Chemiker Antoine de Lavoisier (1743-1794), und damit verbunden vor allem auf Madame de Lavoisier, die nicht nur Ideen hatte, sondern diese auch an sich selbst ausprobierte.
"Niemand hatte sich bisher die Frage nach der Verbrennung von Nahrung gestellt. Nach diesem Experiment würde Herr Lavoisier noch berühmter sein. Obwohl Madame der eigentliche Kopf hinter seinen Erfolgen ist."
Diebstahl geistigen Eigentums, gepaart mit der Nicht-Achtung der Frau - so könnte der Schwerpunkt dieser Erzählung umrissen werden.
Lavoisier entwickelt nicht nur exakte wissenschaftliche Methoden der Messung und Beweisführung, er schafft auch ein System der Absicherung für sich selbst. Und schreckt nicht vor Betrug zurück, wenn es um Ruhm und Ehre geht.
So steckt bis heute die Ansicht, er habe den Sauerstoff als Element entdeckt, in vielen Köpfen. Das hat jedoch vor ihm ein Engländer namens Priestley getan, Lavoisier hat dann seinen eigenen Bericht zurückdatiert, um das Rennen zu gewinnen.
Diese Geschichte wird aus der Sicht des Labordieners Jean-Marie erzählt. Er hegt große Sympathie für Madame, er geht große Risiken ein, um ihr einen Fasan zu beschaffen, er begeht einen Geheimnisverrat, der in sein Dorf zurückreicht, gewinnt damit aber seine Verlobte und er kann nicht umhin, die Menschenmengen zu beschreiben, die zu dem Platz strömen, an dem Hinrichtungen stattfinden.
Auch Antoine de Lavoisier wird auf dem Schafott enden.
Jedoch nicht wegen seiner Forschungen, sondern weil er als Erpresser und Steuereintreiber angeklagt war.
Antoine de Lavoisier wird in Lichtwarck-Aschoffs Geschichte keineswegs angeklagt. Der Autor zeichnet in einer durchaus unterhaltsamen Geschichte nach, welche Zufälle, Eitelkeiten, Versehen und sogar Fehler zu Erkenntnissen führen, die mit der Zeit in Vergessenheit gerieten. Am Ende sieht es immer so aus, als habe hinter allem ein Plan gesteckt - mitnichten!
Außerdem schmückt er die Geschichte sehr schön aus mit den Gedanken und Erlebnissen Jean-Maries, der so auch zu einem Chronisten der Zeitereignisse wird.
Louis Pasteur (1822-1895), der Chemiker und Mikrobiologe, der unter anderem die Impfung gegen die Tollwut entwickelte, wird von verschiedenen Erzählstimmen und
aus dem Jahr 1940 heraus rückblickend betrachtet.
Dabei wird neben dem Thema Patriotismus der Kampf zwischen Natur- und Schulmedizin ausgefochten.
Die Protagonisten Alphonse, ein Freund der Deutschen und Anhänger der Kräutermedizin (und damit Gegner Pasteurs), sowie der 1940 durch Selbstmord ums Leben gekommene Joseph Meister, spannen den Bogen weit zurück, bis ins
Jahr 1885.
In jenem Jahr bewahrt Pasteur den achtjährigen Joseph Meister aus dem Dorf Steige im Elsass als ersten Menschen mit einer Impfung vor der Tollwut. Doch hat er das wirklich?
Es ist nicht ganz klar, ob der Hund, der das Kind gebissen
hat, überhaupt Tollwut hatte. Klar ist jedoch, dass er den
Tod des Kindes riskierte.
Was Joseph nie so gesehen hat, für ihn war er sein Retter.
Im Kern dreht sich die Geschichte um Neid und Macht - politische Macht, sowie Macht über das Denken der anderen.
Aber auch um Herkunft, Fremd-Sein und Bleiben, um den Krieg und die unterschiedliche Interpretation von Fakten.
"Über die Bescheidenheit der Rebe" - hat eine Pflanze Eigen-schaften dieser Art? - macht sich Claude Bernard (1813-1887) Gedanken. Der aus einer Winzerfamilie stammende Professor für Allgemeine Physiologie in Paris, der für die Verwendung wissenschaftlicher Methoden auch in der Medizin stritt, d.h. Experimente und (Tier)Versuche durchführte sowie Kausalzusammenhänge herstellte,
kehrt immer wieder in seine Heimat nahe Lyon zurück.
Dort begegnet er als alter Mann der blinden Berenice Domer.
Jener Frau, die drei Jahre lang in Paris untersucht worden war, von vielen Ärzten verschiedener Fachrichtungen, unter anderem von Charcot, jenem berühmten Arzt, der die Hysterie der Frauen erforschte. Der "im großen Hörsaal die Körper der jungen Hysterikerinnen entblößte und Konvulsionen, Toben und Schreien auslöste."
Bernard konnte die junge Berenice nicht vor Charcot beschützen. Sie "gehörte" Charcot, obwohl die Ursachen
ihrer Erblindung herausgefunden werden sollten.
Bernard hat ein besonderes Verhältnis zu Berenice.
Als er sie nach vielen Jahren wiedersieht, ist er zutiefst erschüttert. Sie wird jene sein, die Hemden aus feinem schwarzem Stoff für seine Reben näht - er führt ein Experiment zur Lichtempfindlichkeit von Pflanzen durch.
Die blinde Näherin verhilft ihm damit zur Durchführung eines Versuchs, dessen Idee von Agnés, der Haushälterin von Bernards Mutter, stammt. Die junge Agnés interessiert sich mehr für ihre Pflanzen als für alles andere.
Könnten Pflanzen nicht Lichtzellen haben, so wie Menschen Augen, die ja im Prinzip eine Bündelung von Lichtzellen sind?Agnés Idee ist keine abwegige, Bernard greift sie auf.
Berenice wird die Hemden nur nähen, wenn Bernard dafür sorgt, dass ihr Sohn Yannick nicht in den Krieg ziehen muss (1870). So ist der Krieg wieder Thema, der große, zwischen Staaten oder Völkern, je nachdem, wie man es sieht.
Vor dem Krieg gegen ihr Geschlecht konnte Bernard Berenice nicht bewahren. Seine Theorie von innerem Milieu und Außenwelt mag auf der biologischen Ebene stimmen, doch wenn er sie auf Berenice überträgt? Hier kommen ihm Zweifel. "Er sprach jetzt davon, als müsse er alles neu durchdenken. Gibt es da wirklich eine unzerstörbare Kapsel in uns, die uns vor den Veränderungen der Welt draußen beschützt?"
Hier kommt er in den Bereich der Psychologie, dafür ist es noch zu früh...
Lichtwarck-Aschoff greift in seinen Geschichten viele
Details auf, Fakten, die nicht völlig unbekannt sind.
Aber er sucht die Zusammenhänge, benutzt sie wie ein Prisma, das je nach Blickwinkel andere Ansichten bietet.
Vor allem lenkt er den Blick auf die Menschen und ihre Ungereimtheiten.
Er verknüpft so gekonnt Wissenschaft, Zeitgeschichte,
die Rolle der geistigen Haltung des Forschers und des Betrachters mit all den persönlichen Vorlieben, Ängsten, Erlebnissen, dem ganzen Leben seiner Protagonisten, und hier meine ich nicht nur die vier großen Männer, sondern all jenen, die um sie herum sind, dass die Welt der letzten drei Jahrhunderte sehr lebendig wird.
Er beherrscht die Beschreibung und variiert seinen Tonfall
je nachdem, wer erzählt. Der Labordiener Lavoisiers erzählt anders als Fabienne, eine junge Frau unserer Zeit, die mit
der Geschichte Joseph Meisters beschäftigt ist.
So gelingen Lichtwarck-Aschoff in Inhalt und Stil vier sehr vielfältige Geschichten, die zwar in die Vergangenheit blicken, damit aber auch die Gegenwart erhellen.
Michael Lichtwarck-Aschoff:
Als die Giraffe noch Liebhaber hatte. Vier Entdeckungen
Klöpfer & Meyer Verlag, 2017, 244 Seiten