Michael Köhlmeier - Shakespeare erzählt
Wer den großen englischen Dichter nicht im Original lesen kann, hat die Möglichkeit auf die klassische, immer noch schöne und gültige Schlegel-Tieck-Übersetzung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück-zugreifen.
Oder man liest die sehr nah am Original bleibenden und den
Sprachwitz sehr gut wiedergebenden Übertragungen des Lyrikers Erich Fried, erschienen ab 1970.
Eine dritte Möglichkeit des Kennenlernens bieten die "Nacherzählungen" von Köhlmeier aus dem Jahr 2004.
Elf Stücke hat der Autor sich vorgenommen, ein jedes umfasst gut zwanzig Seiten und bringt mit moderner Sprache - die aber an keiner Stelle flapsig oder albern ist - den Kern des jeweiligen Stückes auf den Punkt.
In der Nachbemerkung zitiert er den Shakespeare-Experten Harald Bloom, der behauptet, "dass Shakespeare uns neu erfunden hat." Die Seele des Menschen kann mit einem Bergwerk verglichen werden, in dem alles alles alles, was in des Menschen Seele wohnt, enthalten ist. Shakespeare hat diese verschütteten Schätze gehoben, "ohne die Bergwerks-arbeit dieses größten aller Dichter wären wir nicht die, die wir sind."
Vor Shakespeare waren die Figuren der Literatur blass, papieren, ausgedacht, Transporteure von Gedanken oder Philosophien, nach ihm sind sie lebendige Menschen.
Er hat dieses Bergwerk "ausgebeutet bis auf den letzten Stein ... Shakespeare hat den Menschen und in der Folge die Literatur neu erfunden."
Starke Worte, aber man sehe sich die Gestalten Shakespeares an: Macbeth, Hamlet, König Lear, Othello, Jago, Oberon ...
Stärker geht es nicht.
Köhlmeier arbeitet in seinen Nacherzählungen die markanten Eigenschaften der Protagonisten heraus.
Er verzichtet dabei nicht zugunsten der Plakativität auf die Feinheiten und die Vielschichtigkeit der Personen oder auf die Wandlungen, die sie durchmachen.
Zum Beispiel Hamlet, das meistgespielte Stück an deutschen Theatern.
Hamlets Vater ist tot, er wäre der Nachfolger auf dem Thron, wenn er denn nicht so unpraktisch, verträumt, philosophisch oder gar kindlich wäre. Es könnte in der jetzigen Situation Dänemarks fatal sein, einen solchen König zu haben, denn der junge Norweger Fortinbras bedroht das Königreich Dänemark. Und da braucht es einen, der handelt.
Da setzt sich Claudius, der Bruder des verstorbenen Königs, auf den Thron. Jedermann ist einverstanden. Kurz jedenfalls. Als Claudius und Gertrude, Hamlets Mutter, zwei Monate nach dem Tod des Vaters heiraten, sinkt Claudius in der Gunst des Volkes, die Mutter muss sich von Hamlet anhören, sie sei eine Hure.
Hamlet, der in Wittenberg studiert, kommt zu den Trauerfeierlichkeiten nach Hause. Er ist ein lebender Vorwurf. Er trägt demonstrativ nur noch schwarz, er spricht mit niemandem außer sich selbst (das aber sehr ausführlich),
er ekelt sich vor Claudius, der ihn "Mein geliebter Sohn" nennt.
Da erscheint eines Nachts ein Geist. Nicht nur Hamlet sieht ihn. Er berichtet von seinen Qualen in der Hölle und er sagt: "Ich bin von meinem Bruder ermordet worden ... er träufelte Gift in mein Ohr. Ich will, dass du Rache übst, Hamlet. Töte ihn! Aber verschone deine Mutter!"
Es stimmt, was der Geist behauptet, Hamlet hört wenig später ein Gebet Claudius´, in dem dieser ein Geständnis ablegt.
Hamlet hasst Claudius. Man munkelt, Gertrude und ihr Schwager wären schon lange ein Paar. Es schleicht sich sogar das Gerücht ein, Claudius könnte der Vater Hamlets sein. Hamlet ist ein
Verlorener. Er hat die Liebe zu Ophelia verloren, zu ihrem ihm ergebenen Bruder Laertes, zu ihrem Vater Polonius, dem Oberkämmerer des Hofes. Dieser wird später von Hamlet erstochen, Ophelia
verfällt dem Wahnsinn.
In der Schlussszene ersticht Hamlet Claudius, Laertes wird tödlich verwundet, Hamlet ebenso, Gertrude trinkt vergifteten Wein. Das hatte Claudius anders geplant, er hatte nur Hamlet loswerden
wollen. Dass dieser Plan in einem großen Infernal endet, ist Zufall.
Soweit die Story - aber die ist bei weitem nicht alles.
Köhlmeier stellt sehr anschaulich den Untergrund der Geschichte dar: was ist Vermutung, Verstecktes, Verheimlichtes, Einverständnis oder Wahrheit?
"... in dieser Geschichte geht es weniger um das, was geschieht, als um das, was vorher geschah. Und es kommt nicht so sehr darauf an, was geredet wird, als darauf, was gedacht wird. - "Brich, mein Herz, denn meine Zunge muss schweigen!" - Und vielleicht kommt es in letzter Wahrheit auch nicht darauf an, was gedacht wird, sondern auf das, was man nicht einmal zu denken wagt."
So bleiben die Gerüchte und Spekulationen bestehen.
"Und sie nehmen kein Ende. Bis heute nicht."
Hamlet der Träumer, Student, Rächer und Mörder ist nur eine der Personen, die die Phantasie vieler Künstler beflügelt haben. Man denke an all die Ophelia-Bilder, die im
19. Jahrhundert entstanden sind. Ihr Wahnsinn, ihre absolute Verlorenheit, ist ein anderer Aspekt des Dramas.
Oder die Rolle des Gemurmels im Hintergrund, namenlos, mächtig. Laertes, der eigentlich ein Mann des Lichts ist oder Horatio, ein großartiger Freund - auch diese Themen klingen an.
Die Prophezeiungen der Hexen in Macbeth, die unsägliche Einbildungskraft dieses Mannes, die Intrige in "Othello" ("Wenn es so etwas wie eine Religion der Intrige gibt, dann ist Jago ihr Stifter"), das Unglück des König Lear und seinen beiden untreuen Töchtern, Neid, Eitelkeit und ein Streit, dessen Ursachen länger zurückliegen als Menschen zurückdenken können in Romeo und Julia oder der Verrat des Brutus an Cäsar - die Seele des Menschen ist wahrlich ein Bergwerk, Shakespeare hat die Schätze gehoben.
Köhlmeiers Erzählungen sind kein Ersatz, sie sind eine wunderbare Ergänzung zu den Dramen, auch Ein- und Hinführung zum Original.
Darüber hinaus folgen sie einer eigenen Dramaturgie und können durchaus für sich bestehen. Als Erzählungen, die sich tief hineinbegeben in die dunkle Unterwelt und den Leser bekannt machen mit Menschen, die nicht vor langer langer Zeit lebten, sondern die ganz gegenwärtig sind.
Und ziemlich nah.
Michael Köhlmeier: Shakespeare erzählt
Piper Verlag, 2004, 281 Seiten