Michael Köhlmeier - Idylle mit ertrinkendem Hund

 Die Geschichte beginnt damit, dass der recht zurückhaltende Lektor Dr. Beer seinem Autor (dem Ich-Erzähler) am Telefon das "Du" anbietet. Das kommt völlig unerwartet und bereitet beiden Schwierigkeiten, denn diese Anrede hebt ihre Beziehung auf eine neue Stufe.

Noch viel mehr verändert sich, als

Dr. Beer für ein paar Tage zu Besuch nach Hohenems ins Haus des Schriftstellers kommt, um ausnahmsweise einmal dort mit diesem über seine Arbeit zu sprechen.

 

Dr. Beer freundet sich sofort mit Monika, der Frau des Erzählers, an, er verwandelt sich von "Mister Genauigkeit" (wie er in der Branche genannt wird) in einen Mann, der plötzlich ein Innenleben zu haben scheint.

In dem Dschungel, den Monika im Haus angelegt hat, bricht Dr. Beer in Begeisterung aus. Spitze Schreie, Gesang und Tanz passen nicht zu dem Herrn aus dem Lektorat, doch er ist bestens gelaunt und zieht es vor, den Abend dort zu verbringen und nicht ins Restaurant zu gehen.

 

Am folgenden Tag wird an einem Manuskript gearbeitet, das Dach eines Gartengebäudes vom Schnee befreit (es ist Januar und es liegt extrem viel Schnee, Tauwetter kündigt sich an), nachmittags geht Dr. Beer spazieren, der Erzähler bleibt zu Hause.

 

Als Dr. Beer zurückkommt, sprudelt er über: er hatte ein außergewöhnliches Erlebnis. Ein großer Hund begegnete ihm, schloss sich ihm an, begleitete ihn und schien ihn als seinen Herrn anzuerkennen. Und er selbst, der normalerweise Angst hat vor Hunden, fühlte sich wohl in dieser Rolle, gab ihm sogar sein Vesper. Als der Hund ihn plötzlich wieder verließ, einfach sitzen blieb und in eine andere Richtung sah, war er froh (er hätte ja nicht einfach einen großen Hund mitbringen können) und traurig zugleich.

 

Er erzählt die Geschichte am Abend ein zweites Mal dem Wirt des Restaurants, ein drittes Mal anderen Gästen, ein viertes Mal in der Nacht irgendjemandem am Telefon.

 

Seinem Autor erscheint dies wie ein Verrrat. Verrat an ihm und Monika, die diese Begebenheit "als erste gehört hatten."

Er selbst führte kurz vor Dr. Beers Besuch ein Gespräch mit seiner Frau über preisgeben. Sie sagte, er hätte sich in den letzten Jahren niemandem mehr preisgegeben als seinem Lektor, mit dem er um die Worte ringt. Als Preisgabe empfindet der Erzähler viel mehr das Vorlesen, auf dem

Dr. Beer besteht, wenn er mit dem Klang eines Satzes nicht einverstanden ist und möchte, dass der Schriftsteller selbst hört, dass es so nicht geschrieben werden kann, weil es nicht gut klingt.

 

Kann man preisgeben ohne zu verraten?

 

In der Nacht führt der Erzähler ein fiktives Gespräch mit

Dr. Beer. Er erzählt von Paula, seiner Tochter, die mit einundzwanzig Jahren bei einem Bergunfall gestorben ist. Zweieinhalb Jahre ist das nun her, seitdem hat ihn und auch seine Frau die Trauer keine Sekunde verlassen.

Jeder versucht auf seine Art damit fertig zu werden, beiden gelingt es nicht ganz (wie sollte das auch gelingen).

 

Gerne würde er über Paula schreiben, erzählt er in jenem nächtlichen Gespräch. Soll er Literatur daraus machen oder soll er es bei einer Erinnerung belassen? Ohne Gedanken an Klang und Form, ohne Zügel und Dramaturgie?

Für die Erinnerungen hat er Monika, er kann mit ihr über die Tochter sprechen. Würde er eine Geschichte daraus machen, würde sie nicht mit einundzwanzig enden, er würde entwickeln, was weiter gewesen sein könnte.

"Damit es außerhalb von mir ist, verstehst du das?"

 

Er denkt an Paula zurück, wie gerne sie und ihre Geschwister am Abend Geschichten hörten, er denkt an das, was Paula geschrieben hat, und daran, dass sie nicht mehr in ihrem Zimmer schlafen wollte, nachdem sie von ihrem Freund verlassen worden war. Das Zimmer "erinnerte sie zu sehr an die, die sie gewesen war."

Er erfährt in diesem Traumgespräch, dass Monika ebenfalls eine Erzählung über Paula schreibt, das hat sie ihm erzählt, Dr. Beer, nicht ihrem Mann.

 

Am dritten Tag geschieht das Unglück: die beiden Herren gehen zusammen spazieren, sie treffen auf den Hund.

Dieser steht auf dem Eis, das aufgrund des sehr schnell einsetzenden Tauwetters brüchig ist. Der Hund will zu den beiden herüberlaufen und bricht ein. Verzweifelt versucht er, sich freizustrampeln, er schafft es nicht. Dr. Beer rennt los, um Hilfe zu holen. Der Erzähler ist alleine mit dem Tier.

 

Er wagt sich hinaus aufs Eis, robbt zu dem Loch hin, bekommt den Hund zu fassen, doch er kann ihn nicht herausziehen. Ihm ist klar, dass er ihn loslassen muss, will er nicht selbst vollends einbrechen. Doch nicht noch einmal will er dem Tod den Sieg überlassen. Unterkühlt und verletzt werden beide von der Feuerwehr in letzter Minute gerettet - auch der Hund überlebt.

 

Dr. Beer besucht ihn im Krankenhaus, sein Autor fragt ihn, was er nun mit dieser Geschichte anfangen soll.

Und er erinnert sich an ein Gespräch, das die beiden vor einiger Zeit führten. Das Thema: der Lieblingsheld des Lektors. Dieser ist Mister Verloc aus Joseph Conrads "Der Geheimagent." Verloc ist ein Verräter, der seine Freunde ans Messer liefert. Das Entsetzen des Schriftstellers pariert

Dr. Beer mit einem leicht hingeworfenen "Leider ersparen Sie mir nicht die Peinlichkeit, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei dieser Geschichte nicht um das Leben, sondern um Literatur handelt."

 

Daraufhin erzählte er ihm eine Geschichte aus dem Leben. Der Lektor hört sich diese an und gibt ihm gleich Hinweise, wie er verfahren solle, wenn er eine Erzählung daraus macht. Sprich, das Leben in Literatur verwandelt.

 

Diese Begegnung im Krankenhaus ist die letzte, danach gibt Dr. Beer "seinen" Autor an einen jüngeren Kollegen ab.

 

Ausliefern ist eine Bedeutung von preisgeben, eine andere ist überlassen. Das Traumgespräch über Paula findet in der Nacht vor dem Fast-Ertrinken des Hundes statt. Die letzte Szene ist die Erinnerung an das Gespräch über Literatur und Leben. 

 

Der Autor hat sich einen (vermutlich) fiktiven Lektor geschaffen, einen überraschend vielschichtigen Mann,

der den Finger auf jede wunde Stelle legt. Der auf der Wandlungsfähigkeit des Lebens in Kunst besteht, der eine Dramaturgie entwirft, die der vom Leben gebeutelte Autor vielleicht nicht selbst sieht, der verlangt, dass der Dichter sich preisgibt, niemals aber erwarten würde, dass er sich verrät, der verschwindet, als sein Autor ihn nicht mehr braucht, weil er einen Weg durch den Dschungel aus Gefühlen und Erinnerungen gefunden hat.

 

Eine Idylle ist die Natur an keiner Stelle - sie ist viel mehr eine große Gefahr. Zerbröselnde Berge, brechendes Eis, Schneemassen, die Dächer zum Einsturz bringen, nur aus der Ferne sieht sie schön aus.

Den Hund kann der Erzähler retten, er kann ihn so lange festhalten, bis Hilfe kommt, der Tochter konnte niemand mehr helfen.

Er kann seine Gedanken in diesem Selbstgespräch einem (Gesprächs)Partner überlassen, der ihn begleitet - auf der Suche nach dem richtigen Wort, dem rechten Maß.

Und ohne die Gefahr eines Verrates.

 

 

 

 

 

 

 

Michael Köhlmeier: Idylle mit ertrinkendem Hund

Zsolnay Verlag, 2008

 dtv, 2010, 112 Seiten