Karen Köhler - Wir haben Raketen geangelt

Der Stil dieser Erzählungen ist klar, modern, aber nicht flapsig; direkt, jedoch nicht voyeuristisch, unsentimental  im Sinne von:  die Autorin hat es nicht nötig, auf die Tränendrüse zu drücken. Ihre Helden haben allesamt kein Glück, es gibt nur eine Erzählung, in der niemand zu Tode kommt, doch sie klingen im Klang heller Glocken, das Totenglöckchen fehlt.

 

Karen Köhler gelingt das Kunststück, ganz tief empfundenen Schmerz in Worte zu kleiden, die Nähe und Distanz gleichzeitig herstellen. Manches - zu schwer Wiegendes - bleibt in der Schwebe und dadurch erträglich.

 

Ein Element, das mehrere Erzählungen verbindet, sind Steine. 

In der ersten Erzählung sind es sogenannte "Steine der Schwere". Sie liegen an einem Altar in der Krankenhaus-kapelle mit der Aufforderung, der Besucher solle seine Ängste und seinen Schmerz in die Steine hineinfließen lassen und diese dann auf dem Altar ablegen.

Die Ich-Erzählerin ist dreiunddreißig Jahre alt, leidet an Krebs und hat gerade eben mitgeteilt bekommen, dass es nicht wirklich gut um sie steht, weitere Therapien sind nötig. Ihr Freund Tom meldet sich seit Tagen nicht mehr, alles, was er schickt, ist eine kurze SMS: "Gib mir Zeit. Tom."

Der Lichtblick in dieser Situation ist der Comandante.

Ein älterer Patient, der über Witz und Charisma verfügt und die Erzählerin aus ihrer Trauer reißt. Ihr Mut macht mit seiner ungebrochenen Kraft und ihr zeigt, dass ihr Leben noch nicht vorbei ist.

Dieser Gefährte stirbt kurze Zeit nach ihrem Kennenlernen, ob die Erzählerin überlebt, weiß man nicht. Aber für wie lange auch immer, der Comandante hat sie dem Leben zurückgegeben. Sie opfert ihm ein ganzes  "Nest der Schwere", ihre mit Steinen gefüllte Perücke. 

 

In der Geschichte "Cowboy und Indianer" sitzt die

Ich-Erzählerin Katharina frisch ihres Rucksackes (d.h. ihres Geldes, ihrer Papiere etc) beraubt an einer Tankstelle im Death Valley. Sie hat einen langen Weg in der Sonne zurückgelegt, um dorthin zu kommen, sie ist dehydriert und völlig abwesend. Unversehens beugt sich ein Indianer in Federschmuck zu ihr hinunter und gibt ihr zu trinken.

Sie kommt wieder zu sich, Bill drückt ihr eine "Träne von Mutter Erde", einen kleinen Stein, in die Hand. Warum, das sagt er nicht. Er nimmt sie mit. Die beiden fahren nach

Las Vegas.

Nach einem kurzen und erfolgreichen Besuch im Casino will Bill sofort weiterfahren zu seinem Stammestreffen.

Aber: er wird brutal zusammengeschlagen. Nicht wegen des gewonnenen Geldes, sondern weil er eine "Rothaut" ist.

Nun ist Kat diejenige, die Bill retten muss.

Im Laufe der Erzählung geht der Protagonistin ihre Kindheit und Jugend durch den Kopf. Sie war ihr Leben lang immer eine Indianerin, nie spielte sie auf Seiten der Cowboys mit. Ein Cowboy war Markus, der sie vergewaltigt hat.

Und nicht dafür bestraft wurde.

Sie denkt an Shila, ihre erste große Liebe, die mittlerweile auch in den USA lebt. 

Katharina ist nun eine Künstlerin, die großen Erfolg mit Porträts von Verbrechern hat, die sie nach einer alten japanischen Technik in Brokat webt. Eines Tages nimmt sie das Cowboy-Markus-Porträt und verbrennt es.

"Ich nahm ihm seine Bedeutung, er hatte keine Macht mehr über mich. Die Flammen fraßen sich durch sein Gesicht, entstellten ihn, verwandelten ihn in Asche. Er wurde zu einem, irgendeinem Menschen, der mein Leben einmal gestreift hatte."

Zusammen mit Shila streut sie diese Asche ins Meer.

Kurz darauf begegnet sie Bill. Und bekommt die Träne der Mutter Erde geschenkt. Am Ende kann sie ihm den Stein zurückgeben.

 

Dies ist ein weiterer Aspekt, der die Erzählungen miteinander verbindet: etwas geht zu Ende, wird beiseite gelegt, wird begraben. Weil es keine Bedeutung mehr hat und die Lebenden eine Befreiung von einer alten Last erleben.

 

Eine zu Ende gegangene Liebe führt in der Geschichte

"Wild ist scheu" vielleicht zum realen Tod der Verlassenen.

In den anderen Geschichten sterben Menschen an Alter, Krankheit, Hunger, Unfällen oder Suizid, ungeborene Kinder sterben in einem frühen Entwicklungsstadium - Welten zerbrechen - und entstehen aus dem Nichts oder aus Bruchstücken oder aus Zuwendung wieder neu.

Und dafür wird weder Gott noch die Religion bemüht, die Erneuerung liegt in den Menschen.

 

 

Der Titel des Buches stammt von der gleichnamigen Geschichte.

"Halb erfroren standen wir auf der Brücke über den S-Bahn-Gleisen. Deine alte Anglerausrüstung in den Händen. Jeder eine Angel. Der Himmel war längst wieder abgekühlt vom großen Geballer, da haben wir Raketen in leere Flaschen gesteckt und unsere Anglersehnen an das hölzerne Ende der Flugkörper befestigt. Commencing countdown, engines on. Synchron hielten wir die Feuerzeuge an die Lunten. Rasch die Angeln in die Hände. Drei. Zwei. Eins. Fauchend sausten die Raketen, von Sehnen gebändigt, mühsam in den Himmel und explodierten über unseren Köpfen. Wir haben Raketen geangelt. Das war letztes Silvester."

 

Mühsam aufsteigende, gebändigte, von Anglern gehaltene Raketen - das ist ein doppelbödiges Bild.

Es bedeutet, den Himmel auf die Erde zu holen, es bedeutet auch das Verhindern eines freien Fluges.

Kurz nach Silvester nimmt sich Libero, der Freund der Erzählerin, das Leben.

Sein Herz wird verpflanzt, er hatte "so einen Ausweis."

"Den Gedanken ertrag ich kaum: Dass da jetzt einer rumläuft mit deinem Liberoherz."

Sie macht diese Person ausfindig, eine Frau, die regelmäßig in einem Bioladen einkaufen geht.

"Schnall dich an: Ab nächsten Ersten fang ich da an, als Verkäuferin. Halbtags. ... Du würdest Simone nicht mögen."

 

Noch ein Faden, der sich durch das Buch zieht:

die Gegangenen sind nicht weg. Mit ihnen wird gesprochen, geschimpft, beratschlagt, in der letzten Geschichte "Findling" gelebt. Sie werden an einem dünnen Band gehalten wie die Raketen an der Anglersehne. So bekommt das Verhindern des freien Fluges, das erst einmal negativ klingt, eine weitere Bedeutungsebene. 

 

Von dieser jungen Autorin wird es hoffentlich noch viele Bücher zu lesen geben. Sie beherrscht das Zusammenfügen des Gegensätzlichen, inhaltlich und stilistisch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt

Hanser Verlag, 2014, 237 Seiten

dtv, 2016, 237 Seiten