Tuomas Kyrö - Bettler und Hase
Tuomas Kyrös Roman ist eine herrliche Sozialsatire. Im Mittelpunkt steht ein illegaler Einwanderer aus Rumänien,
der anfangs sein Geld als Bettler verdient und dann einen märchenhaften Aufstieg an die Spitze des Staates Finnland schafft.
Zwischen diesen beiden Punkten liegen viele Abenteuer, die in einer Mischung aus Schelmenroman und Roadnovel präsentiert werden. Doch der Reihe nach.
Vatanescu verlässt sein Dorf und seinen Sohn aus purer Not. Er begibt sich in die Hände Jegor Kugars und in dessen Transporter, der ihn in den hohen Norden bringt. Mit Pappbecher zum Betteln und einem zerknirschten Gesicht ausgestattet sitzt er auf der Straße und darf dann sogar ein Viertel des Erlöses für sich behalten. Der Organisator der Truppe ist ein vierschrötiger Mann, der eine bewegte Vergangenheit hinter sich hat. Drogenhändler, Partylöwe, BMW- und Frauenbesitzer, jetzt Chef einer Bettlergruppe. Was ein ziemlicher Abstieg ist. Neben seiner guten Position verlor er auch noch ein Ohr, aber das ist eine andere Geschichte.
Mit diesem Jegor Kugar gerät Vatanescu bald aneinander: nach einem herrlichen Mahl mit gerade erst abgelaufenen Lebensmitteln aus dem Container hinter dem Supermarkt feiert die Gruppe bei den Wohnwagen ein kleines Fest.
Das passt Kugar gar nicht, es kommt zum Streit, zur Revolte. Vatanescu muss schleunigst das Weite suchen. Er flieht, versteckt sich. Und lernt im Park einen Hasen kennen, der ebenso auf der Flucht ist wie Vatanescu selbst. Dieser rettet den Hasen vor seinen Peinigern und behält ihn bei sich.
Anfangs bringt er ihm kein Glück, immer wieder muss er wegen dem Hasen türmen, aber dann wird er zum Tür- und Herzensöffner. Die erste Chance bekommt Vatanescu bei einem vietnamesischen Restaurantbesitzer (gelungene Migration), der ihn den Abwasch machen lässt.
Viel wichtiger ist aber sein Tipp, Beeren zu sammeln und diese dann zu verkaufen. Dafür braucht man keine Sozialversicherungsnummer, das ist finnisches Jedermannsrecht und gilt auch für vietnamesische und rumänische Jedermänner!
Die Sozialversicherungsnummer ist auch so ein Thema:
hat man sie nicht, existiert man nicht. Hat man sie, stehen einem diverse Rechte zu, die das Leben erheblich erleichtern.
Krankenversicherung, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Rente, Studienbeihilfe, Wohnungsgeld, Tagesgeld, Stipendien -
gibt´s alle nur mit Nummer. Vatanescu hat keine.
Mit einem Anzug ausgestattet, der sowieso keinem Kellner passte, macht er sich mit dem Zug auf den Weg. Dabei lernt Vatanescu ein paar Jugendliche kennen, die ebenfalls in den Norden reisen. Ihnen erklärt er, "er habe in der Investmentbranche angefangen, jetzt aber auf dem Rohstoffmarkt neue Herausforderungen gefunden."
So kann man es auch ausdrücken.
Auf seinem Weg in die Wildnis trifft er auf das Ehepaar Pykström. Sie hatten sich einst in die Natur aufgemacht, in der Wunschvorstellung, dort ein einfaches Leben zu führen. Irgendwann merken sie, dass sie genau das gleiche Einfamilienhaus haben wie früher in der Stadt, und auch die Zivilisation hat sich in ihre Richtung ausgedehnt.
So ergeht es vermutlich vielen Finnen (und anderen Alternative-Suchenden auf der Welt).
Harri Pyström ist nackt, als Vatanescu ihm begegnet: er kommt gerade aus der Sauna. Daher kommt er irgendwie immer, wenn er nicht dahin geht. Sie ist des Finnen liebster Ort der Rekreation, gerne von einem Schnäpschen begleitet. Vatanescu findet jedenfalls freundliche Aufnahme und wird von Frau Pykström an den Ort gefahren, wo er ganz viele Beeren findet. Leider jedoch dabei das Handy verliert, mit dem er den Rücktransport hätte ordern sollen.
So landet der Beerensammler zufällig auf dem Bau.
Eine riesige Vergnügungsanlage entsteht mitten im Nichts, erbaut von Menschen aus aller Welt (ohne die begehrte Sozialversicherungsnummer). Wo genau er ist, weiß er gar nicht, er wurde mit einem anderen Mann verwechselt.
Aber er hat ein Dach über dem Kopf, nur das zählt.
Und ein weiteres Missverständnis macht ihn zum Medienstar: plötzlich steht er auf der Seite von Naturschützern - unabsichtlich und zufällig.
Das ist ein so absurde Szene, wie sie nur die Welt der sensationsgierigen Medien produzieren kann. Vatanescu erscheint plötzlich als Bauarbeiter, der für die Härten des Systems und des Kapitalismus steht und nun die Seiten gewechselt hat.
Der Hase - ja, er ist immer noch mit dabei - tut auch hier seinen Anteil dazu: er ist äußerst fotogen. Vatanescu wird zum Promi.
Er macht die Bekanntschaft des Ministerpräsidenten, Chef der "Partei der Gewöhnlichen Menschen", davor lernt er aber noch die Frau seines Lebens kennen (eine Magierin, die sein Kaninchen aus dem Hut zaubert und damit für beide die Bahnfahrt bezahlen kann), wird von Jegor Kugar schwer verletzt (Rache) und er muss die Abschiebung in sein Heimatland fürchten.
Aber der Ministerpräsident ist auf der Suche nach einem Nachfolger für sein Parteiamt, seine Wahl fällt auf Vatanescu, denn dieser verkörpert den Jedermann perfekt!
Es ist manches überzogen in diesem Roman, genau deshalb führt er viele Probleme deutlich vor Augen. Es gibt keine Seite, auf der nicht wenigstens ein Mal gelacht werden kann, es gibt dazwischen eingestreut aber auch jede Menge Stellen, die sehr ernsthaft auf einen Missstand hinweisen und eine unangenehme Wahrheit schlicht aussprechen.
Am Ende wird Vatanescu als ein Mann mit großer Willenskraft gefeiert:
"Verdammt! Vatanescu! Du bist die ganze Zeit aufrecht gegangen. Mit gerader Gräte. Mit geradem Sinn. Auf geradem Weg. Oder?"
Ich wurde getrieben.
Ich ging vorwärts, um nicht stehen zu bleiben.
Sonst hatte die Reise keinen Sinn.
"Immer wenn du irgendwo warst, hast du dein Ding hundertprozentig stilsicher durchgezogen!"
Ich versuchte zu überleben.
Ich wollte Stollenschuhe.
"Kein einziges Mal bist du in Faulheit oder Egoismus verfallen! Du hast den Nationalpark gerettet! Du hast Korruption aufgedeckt!"
Das war keine Absicht.
Tut mir leid.
"Du hast offengelegt, wie starr das Beschäftigungssystem ist und wie verknöchert das Sozialhilfeverfahren! Wir hier im hinterletzten Norden können die Wahrheit schon vertragen, allerdings muss sie quasi hintenrum aus dem Mund eines Ausländers kommen."
Die kursiv gedruckten Zeilen oder Absätze ziehen sich durch das ganze Buch. Es sind die Gedanken Vatanescus, manchmal auch die des Autors.
Was sich ebenfalls wie ein roter Faden durch den ganzen Roman zieht, sind die Stollenschuhe.
Vatanescu will seinem Sohn Miklos unbedingt solche Fußballschuhe schenken und zwar die besten, die es gibt. Weltmeisterschuhe. Sie sind eine fixe Idee, und für ihn selbst scheint sein Verlassen der Heimat dann gerechtfertigt zu sein, wenn er diese Schuhe kaufen kann.
Natürlich bekommt Miklos (er wohnt jetzt zusammen mit der Oma beim Vater) sie am Ende, sogar zwei Paare. Neue und welche, die schon seit langer langer Zeit in einem Karton auf ihren Träger gewartet haben. Von dem alten Ehepaar, die Vatanescu bei der Einreise auf der Fähre gegenüber saßen. Sie behalten dafür den Hasen, der mittlerweile nicht mehr so glücklich ist bei Vatanescu, in dem neuen Haus, mit Miklos und dem neuen Baby, denn der Hase hat eine Babyallergie...
So schließt sich der Kreis für alle Beteiligten, ein Happy End wie es sich gehört für eine Einwanderergeschichte.
Tuomas Kyrö: Bettler und Hase
Übersetzt von Stefan Moster
Hoffmann und Campe Verlag, 2013, 320 Seiten
Taschenbuch: Bastei Lübbe, 2014, 320 Seiten
(Finnische Originalausgabe 2013)