Esther Kinsky - Weiter Sehen

"Wohin mit dem Blick?

Beim Sehen geht es um zweierlei: Was man sieht und Wie man sieht. Bei der Frage nach dem Weiter Sehen soll es nur um das Wie gehen. Beim Wie geht es um den Platz, den man selbst sehend einnimmt. Um den Blickwinkel und um die Distanz zu den Dingen, Bildern, zum Geschehen, zu Nähe und Ferne, zur Weite. Die Weite ist mehr als Ferne, sie ist das, was man an Möglichem zulässt. Das gilt für das Sehen von Landschaft, Gelände, von Menschen, von Kunst. Im vergangenen Jahrhundert ist kein Ort für das Wie des Sehens, für die Besinnung auf den Platz, den man sich sehend zuweist oder nimmt, so bedeutend gewesen wie das Kino als Ort, als Raum."

 

In diesem Zitat, das den ersten Teil des Buches über das "Weiter Sehen" einleitet,  steckt konzentriert das, wovon es auf verschiedenen Ebenen erzählt: Der Mensch und die Wahrnehmung von Welt. Der Mensch und die Bestimmung seines Stand-Punktes und die damit verbundene Sichtweise.

Seine Bereitschaft, das Mögliche und nicht nur das Wahr-scheinliche zu sehen und zu denken.

 

Esther Kinsky ist leidenschaftliche Kinogängerin, das Wie des Sehens hier unterscheidet sich grundlegend vom Sehen eines Films zu Hause. Das Kino ist ein öffentlicher und doch geschützter, abgekapselter Raum, die Erfahrung, hier einen Film zu sehen, eine kollektive. Es geht nicht nur um den Streifen, der läuft. Das Erlebnis beginnt schon mit dem Eintreten in den meist etwas schummrigen Vorraum. Man schiebt einen Vorhang zur Seite, um in den Saal zu gelangen, wählt einen Platz, dann richten alle Besucher ihre Blicke auf die Leinwand. All das verbindet auf eine subtile, die Anonymität wahrende Weise.

 

Mit den neuen technischen Möglichkeiten, sich jedweden Film nach Hause holen zu können, starb die "verbindliche Gemeinsamkeit der Erfahrung Kino", das "Wie des Sehens (wurde) endgültig irrelevant." 

 

Esther Kinksy webt ihre Überlegungen zum Sehen in eine Geschichte, in der sie von ihren Versuchen, ein Kino in einer verlassenen Gegend Südungarns wiederzubeleben, erzählt.

Zufällig kam sie in dieses Flachland, das sich vor allem durch Mangel auszeichnet. Und doch übt es eine große Faszination aus, auch das verlassene Kino, vor dem sie plötzlich steht.

Noch lebt sie in Budapest, doch sie kommt immer wieder, schaut, macht Bekanntschaften. Unversehens wird die Frage "Wollen Sie das Kino kaufen?" an sie gerichtet, sie sagt "Ja, vielleicht..." 

 

Ein Teil des Buches ist der Zeit der Abwägungen gewidmet, ein zweiter jener, in der sie mit Hilfe einiger Dorfbewohner das Kino tatsächlich zum Leben erweckt. Für einige Monate einen Traum lebt, die Hoffnung hat, einen Ort zu schaffen, an dem die Menschen sich wieder zusammenfinden können.

 

Diese beiden Teile sind von Vor- Zwischen- und Nachspiel umrahmt. Sie erzählen von der ersten Begegnung der Autorin mit einer Frau in Norwegen, die aus dieser weiten und multiethnischen Gegend stammt, und die vielleicht den Keim der Sehnsucht säte. Das Zwischenspiel erzählt von Laci, jenem Mann, der das Kino gründete. Dies ist eine persönliche Geschichte und eine der Zeit und ihrer Entwicklungen. 

Das Nachspiel erzählt von einem Besuch viele Jahre, nachdem die Ich-Erzählerin das Dorf wieder verlassen hatte.

 

Ein letztes Mal besucht sie den magischen Ort:

"Das war vom Kino geblieben, leere, ausgehebelte Plätze ohne Ausblick. Ohne eine Richtung, in die das Auge sehen, geschweige denn weiter sehen konnte."

 

Das Sterben des Wie im verein mit nachlassender Weitsicht sind Entwicklungen, die weit über das Kino hinaus von Bedeutung sind. Wie kann Gemeinschaft noch gelingen, wenn der Ort der Verständigung demontiert und eine einst gemeinsame Erfahrung in den privaten Bereich verlagert wurde? In ihrer ganz persönlichen Erzählung einer Passion fängt Esther Kinsky die Richtung ein, in die die Gesellschaft sich entwickelt hat und vermutlich weiter entwickeln wird.

 

 

Das Buch enthält einige Kostproben von Esther Kinskys Blick. Fotos zeigen die Landschaft, Gebäude, das Kino "Mozi" von außen und von innen, die riesigen Projektoren und auch den Stumpf eines abgesägten Walnussbaumes. Dieser war ihrem Nachfolger und seiner Idee seines "ordentlichen Vergnügungsorts" im Weg. 

 

Bevor sie das Dorf verließ, stellt sie Józsi die Frage: "Warum kommt niemand ins Kino?" Seine Antwort:

 

"Die Leute wollen vielleicht allein sein mit all dem, was ihnen fehlt. Sie sitzen zu Hause und denken an das, was sie nicht haben. Früher hatten wir das Kino hier, das war da, das war ein ausgefüllter Platz. Drum herum hat viel gefehlt, aber das Kino war da. Man konnte sich am Sessel festhalten, man hat gelacht, und die anderen auch, manchmal haben die Frauen

auch geweint, das ist ja so, dafür sind die Filme ja auch da. Die einen lachen, die anderen weinen, über verschiedene Sachen natürlich. Es gibt doch so ein Märchen, in dem muss man immer vorwärtsgehen, und wenn man sich umschaut, dann stirbt man oder wird zu einem Stein. So ähnlich ist es vielleicht. Wieder ins Kino gehen ist hier wie sich umschauen in dem Märchen. Vielleicht wollen sie lieber vergessen. Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht."

 

Das Kino könnte helfen, Weiter-zu-Sehen, über das eigene Wohnzimmer hinaus. Die Frage ist, ob man das will.

 

 

 

 

 

 

 

Esther Kinsky: Weiter Sehen

Suhrkamp Verlag, 2023, 200 Seiten