Esther Kinsky - Gedankenspiele über die Hoffnung
Ein weiterer Band der ansprechenden Reihe "Gedankenspiele über" des Literaturverlags Droschl erschien im April 2023. Diesmal beschäftigt sich die für ihre Klarheit und ihren Weitblick bekannte Autorin Esther Kinsky mit dem Thema Hoffnung. Sie beleuchtet es von vielen Seiten, stellt fest, dass es ein "zwiespältiges Phänomen" ist, und kommt zu einem erstaunlichen Schluss.
Die Autorin beginnt sehr persönlich mit der Erinnerung an ihre Tätigkeit für das Jewish Refugee Comittee in London in den 1990er-Jahren. Jahrzehnte nach der Shoah suchten Menschen über dieses Büro nach Angehörigen, sie stellte sich die Frage: Warum erst jetzt, so spät?
Während dieser Zeit erreichte sie die Nachricht, ihr Vater liege nach einer missglückten Operation im Koma.
Eine Kollegin sagte ganz offen: "Du weißt, dass es für deinen Vater keine Hoffnung mehr gibt? Nach kurzem Zögern sagte ich: Ja."
Das Warten auf einen Anruf ihrer Schwester mit der Mitteilung, der Vater sei gestorben, "hat sich meiner Erinnerung eingebrannt als eine aus dem Lauf der Zeit gelöste Phase, in der es keine Hoffnung mehr gab."
Nun versteht sie, warum die Angehörigen Vermisster so lange mit einer Anfrage zögerten:
"Die Schreibenden hatten fast ein halbes Jahrhundert lang gefürchtet, mit dem Wissen eine Hoffnung zu verlieren.
Die Hoffnung wog schwerer als die ferne Möglichkeit einer guten Nachricht."
In den folgenden Teilen des Essays geht Esther Kinsky auf die "Hoffnung als Konzept" ein, verweist darauf, dass Hoffnung nicht gleich Optimismus ist, nennt "Zweifel, im Extremfall Verzweiflung", ihre "Gegenspieler".
Sie geht auf die Etymologie des Begriffs ein, denkt über den Zusammenhang von Hoffnung und Zukunft, ganz grundlegend über Hoffnung und die Vorstellung von Zeit nach, über Hoffnung und Glück, Zuversicht, Handeln, Verantwortung, Erinnerung und Kraft, über das Gewicht der Hoffnung. All diese Verbindungen zeigen nicht zuletzt Modelle des westlichen Denkens auf, beispielsweise die Ausrichtung auf das Jenseits, das dem christlichen Glauben innewohnt. Oder die Tatsache, dass eine Hoffnung nicht per se "ein hehres Ziel" hat. Man denke an den Traum einer Nation, ihr Territorium zu erweitern, ihre Hoffnung, eine stärkere Macht im globalen Gefüge zu werden.
Dieser Punkt zeigt auch deutlich, dass zwischen individueller und kollektiver Hoffnung zu unterscheiden ist.
Fein ausgearbeitet und unterlegt mit den berühmten Gedichten über die Hoffnung von Emily Dickinson, Friedrich Schiller und Lord Byron denkt sie über die verschiedensten Facetten des Begriffs Hoffnung nach - es sind viel mehr, als ich erwartet hatte.
Sehr spannend sind die Hinweise Kinskys zu Dantes Commedia und Homers Odysseus. Dieser ist zunächst ein "Mensch der Gegenwart", er "bewegt sich von Jetzt zu Jetzt." Erst indem er anfängt, seine Geschichte zu erzählen, blickt er auf die Vergangenheit und richtet mit seiner Absicht, nach Hause zurückkehren zu wollen, seinen Blick auf die Zukunft. Sprich, er tritt ein in den "Möglichkeitsraum" der Hoffnung.
Im letzten Kapitel blickt Esther Kinsky wieder, wie am Anfang, auf ihr eigenes Leben.
Ihr Lebensgefährte ist an Krebs erkrankt, nach einer langen Zeit der Behandlungen, gibt "es nun keine Hoffnung mehr."
Dieses Mal führt die Hoffnungslosigkeit zu einem völligen Einlassen auf die Gegenwart. Über weite Strecken "herrschte ... das aus aller Zeit gelöste Glück an den Augenblicken, ... ohne Zukunft und Hoffnung."
Es kann auch befreiend sein, die Hoffnung aufzugeben:
"Vielleicht ist die Gegenwart als kompromissloses Jetzt,
das sich mit keiner Aussicht oder Zuversicht einlässt, die unterschätzte Kraft..."
Klar, verständlich, vielschichtig, umfassend, den Ambiva-lenzen nicht aus dem Weg gehend und immer wieder überraschend, auf jeden Falls sehr nachdenklich machend, ist dieser Text. Eine Fundgrube, in der man bei jeder Lektüre neue Aspekte entdecken kann.
Esther Kinsky: Gedankenspiele über die Hoffnung
Literaturverlag Droschl, 2023, 48 Seiten