Esther Kinsky - Fremdland
In dieser Erzählung geht die Autorin den Begriffen Heimat und Fremde nach. Sie lotet sie aus, in ihrer ganz eigenen Art des genauen Hinschauens, des zueinander in Beziehung Setzens.
Wie immer begibt sie sich dabei ins Land, ins Gelände, in die Landschaft.
Sie fasst das Thema in die Wörter Zwischenland, Grenzland, Land der Suche, Niemandsland und Traumland.
Der Text beginnt mit einem Blick über den Gartenzaun des Hauses, in dem Heinrich von Kleist einige Jugendjahre verbrachte. Von diesem Garten blickt man auf die Oder, die damals noch kein Grenzfluss war. Esther Kinsky greift einen Satz von Kleist auf, dieser lautet: "Wir tragen unser Herz umher am falschen Ort." Wenn es einen falschen Ort gibt, gibt es auch einen "rechten Ort": Könnte man diesen "Heimat" nennen? Auch dieses Wort hat sein Pendant: die "Fremde". Zwischen ihnen liegt das "Land der Suche."
Aus dem Rheinland stammend, mit einem großen Fluss aufgewachsen also, und mit einem Vater, der sagte, man könne jeden Ort der Welt am Blau seines Himmels bestimmen, lässt sich die Autorin für einige Jahre im Banat nieder. Jenem Land, das zwischen Ungarn, Rumänien und Serbien liegt. Dort gibt es weiße Mohnfelder und "viele Blaus", die auch ihr Vater noch nie gesehen haben dürfte.
Es wachsen üppigste Rosen auf diesem Land, auch in ihrem Garten, von dem aus sie sich nach Thrakien träumt.
Sie reist von Battonya nach Weißkirchen, Bela Cerkva auf serbisch, beschreibt den Besuch einer Kneipe, das Verhalten der wilden Hunde, das, was kurze Blicke in Innenhöfe, deren Türen sich nur kurz öffnen, zeigen. Man sieht Ausschnitte
"einer Märchenwelt, über der vielleicht in Schnörkelschrift "Heimat" stehen könnte. Oder auch "Fremde". Je nachdem aus welchem Winkel man darauf schaut."
Eine kleine eingeschobene Geschichte des Ehepaares Amira und Zoran führt zu der "Rosenspur", die die Türken in Mittel-europa hinterließen. Als Eroberer zogen sie durch diese Gegend, "Zur Linderung der Fremdheit, die sie empfanden, brachten sie Rosen mit ... Jahrhunderte nach dem Rückzug der Türken noch leben die Rosen hier weiter".
Es gibt Rosen, so in der Geschichte Amiras, so im Garten der Autorin, die nach Jahren "wieder die duftenden rundlichen Blüten alter Rosen" hervorbringen, "als hätte sich die Erinnerung an einen fernen Vorfahr dieser Blume durchgesetzt, womöglich ein Ankömmling aus einer Fremde." (Hervorhebung von mir. P.L.)
So verknüpft Esther Kinsky den Garten Kleists, der den Eingang in "Fremdland" bildet mit ihrem eigenen Garten in Battonya. Beide Gärten liegen in Zwischenländern, in denen sich die Grenzen immer wieder verschoben, die von mehreren Sprachen und Kulturen geprägt sind.
Und sie verknüpft damit auch Heimat und Fremde - wenn Rosen ankommen können, können dann auch Herzen den "rechten Ort" finden?
Sie feiert das Licht und die Blautöne des Himmels. In dieser Farbe gibt es keine Rosen, sie leuchten in unendlichen vielen Varianten an Rot-, Rosa- und Gelbtönen, eröffnen ein anderes Farbspektrum in diesem Essay, der die Frage der Fremdheit an Pflanzen, Tieren und dem Gelände durchdenkt.
Wie in ihrem Roman "Rombo" geht es auch hier um Gelände-verschiebungen, in "Rombo" durch ein Erdbeben, hier durch Wasser.
"Jede Flut machte diese gestrüppigen Zonen längs der Flüsse wieder zu einer Fremde, die Erde verschob sich ..."
Wie im Roman "Hain" ist die Landschaft kein Beiwerk oder malerischer Hintergrund, sie ist Zeugin der Geschichte.
"Hinter dem Bahnhof von Battonya versickerten die Gleise in Unkraut und Gestrüpp, dort war die Grenze nach Rumänien, die der Zugstrecke aus vorgrenzlichen Zeiten einen Riegel vorgeschoben hatte."
Esther Kinsky beobachtet sehr genau, sie beschreibt ohne Umschweife oder Füllwörter, das, was vor ihr liegt und das, was dieses Betrachtete zeigt. Sie schreitet in ihrem Text voran, nimmt aber immer wieder Bilder und Gedanken, die sie bereits äußerte, auf, und führt so in einem wunderbar feinen literarischen Text in ein weites Thema ein.
"Zwischenland" erschien zur Verleihung des Christian-Wagner-Preises im November 2020 in Leonberg, den sie vornehmlich für ihre "naturverbundene Lyrik" erhielt.
Der in dieser Stadt ansässige Verlag Ulrich Keicher publizierte die Erzählung in seinem 2021 ebenfalls preis-gekrönten Verlag. Dieser erhielt den Kurt-Wolff-Preis für seine seit fast vierzig Jahren sorgfältig edierten Bücher, die Brücken zwischen Literatur und Kunst schlagen.
Esther Kinsky: Fremdland
Verlag Ulrich Keicher, 2020, 32 Seiten, Broschur