Hildegard E. Keller - Wach & Frei
Vom Leben und Weiterleben der Alfonsina Storni
Für die zweibändige Biografie der argentinischen Schrift-stellerin Alfonsina Storni (1892-1938) hat Hildegard E. Keller den perfekten Titel gewählt. In Band 1 widmet sie sich den Jahren 1870-1929, dem Erwachen der Dichterin, Journalistin und Feministin. Jener Frau, die 1916 dreiundzwanzigjährig ihren ersten Gedichtband, "Die Unruhe des Rosenstocks" veröffentlicht, und in wenigen Jahren in die obersten Kreise der südamerikanischen Literatur aufsteigt.
Im Dezember 1929 geht sie in Montevideo an Bord eines Schiffes, das sie zum ersten Mal in ihrem Leben nach Europa bringen wird. "Als Storni am 10. Januar 1930 in Barcelona an Land geht, ist sie fast ein Star. Man kennt ihren Namen aus großen Kulturzeitschriften."
Im 2. Band (1930-2024) befasst sie sich mit den letzten acht Jahren des Lebens Alfonsina Stornis. Darüber hinaus berichtet sie, wie das Bild, das heute von ihr besteht, geformt und verformt wurde. Außerdem gibt Hildegard E. Keller einen Einblick in ihre Werkstatt und beantwortet die Frage, was sie dazu veranlasste, sich so intensiv dem Werk der Argentinierin zuzuwenden. Denn zunächst übersetzte sie deren "Geschichten", "Kleines für die Frau", "Interviews & Briefe", "Theaterstücke" und "Lieblingsgedichte". Diese fünf Bände erschienen zwischen 2020 und 2022 in der edition maulhelden, eigens dazu gegründet, das Werk Alfonsina Stornis zu veröffentlichen.
Die vorausgehende Übersetzung war notwendig, denn welchen Sinn macht es, eine Biografie zu publizieren, wenn das Werk nicht auf Deutsch zugänglich ist?
Der ganz konkrete Anlass für ihre Beschäftigung mit Alfonsina Storni war das bekannte Lied Alfonsina y el mar, gesungen von Mercedes Sosa.
Wer ist diese Alfonsina, die dem Lied seinen Namen gab?
Wie sah ihr Leben aus, wieviel davon spiegelt sich in diesem Lied und diversen Denkmalen, in denen sie weiterlebt?
Hildegard E. Kellers Biografie "Vom Leben und Weiterleben" ist eine Korrektur am weiter und weiter verbreiteten falschen Bild, das von Alfonsina Storni existiert. Und das sehr häufig an den Gesetzen des Marktes (homestory, Blick hinter die Kulissen etc.) orientiert ist, oder aus giftigen Bemerkungen von Kollegen/Konkurrenten besteht.
"Die entscheidende Quelle für meine Arbeit ist Alfonsina Stornis Werk", schreibt sie.
Doch sie beleuchtet darüber hinaus Zeitgeschehen und Zeitgenossen, privat, politisch, beruflich. In akribischer Recherchearbeit fügt die Biografin Teilchen um Teilchen zusammen, um ein beeindruckendes Bild entstehen zu lassen, das die Dichterin in ihrer gesamten Lebens- und Schreibensrealität zeigt.
Wer ist Alfonsina Storni?
Alfonsina kommt 1892 im Tessin zur Welt, vier Jahre später wandern ihre Eltern nach Argentinien aus. Schon mit achtzehn ist sie ausgebildete Landlehrerin, beginnt, an einer Primarschule zu unterrichten. Doch am Ende des Schuljahres kündigt sie und zieht nach Buenos Aires, sie ist schwanger. Ihren Sohn zieht sie alleine groß, bleibt ihr Leben lang unverheiratet und der Ehe als Institution gegenüber sehr kritisch. Dass sie ihren Lebensunterhalt selbst verdient, ist für sie selbstverständlich, sie arbeitet als Lehrerin, Autorin, Journalistin und Dozentin am Theater. Sie führt ein bewegtes Leben mit Reisen durch Südamerika und auch nach Europa, immer im Blick: die Situation der Frauen.
1938 beendet sie gut drei Jahre nach einer Brustkrebs-diagnose ihr Leben mit einem Sturz ins Meer.
Ihren Eltern geht es in Argentinien wirtschaftlich nicht gut. Alfonsina beginnt "mit elf Jahren zu arbeiten, ... aus eigener, freier Entscheidung, und dass ich mit zwölf Jahren das Geld für die Miete ... verdiente" erfüllt sie mit "Freude und Stolz".
In dieser Zeit erwacht ihr "Empfinden für soziale Ungerech-tigkeit" (sie ist Auszubildende bei einer Hutmacherin) und sie verfasst ihr erstes Gedicht. Sie ist fünfzehn, als sie mit einer Theatertruppe auf Tournee geht: "Auf diese Weise kam ich ... in Kontakt mit den besten Werken des zeitgenössischen und klassischen Theaters." Nach ihrer Zeit auf der Bühne besucht sie das Lehrerinnenseminar.
Die Welt der arbeitenden Frau, das Glück, das in der Dichtung und im Dichten liegt, die Welt des Theaters: auf diesen Säulen ruht das Leben und Werk Alfonsina Stornis.
Darüber hinaus ist sie eine kontaktfreudige Person, die schnell Zugang zu künstlerischen Zirkeln und Vereinigungen findet. Mit achtzehn wird sie zweite Vizepräsidentin der "Nationalen Liga der Feministinnen", mit neunzehn bringt sie ihren Sohn zur Welt, erste Texte erscheinen in Zeitschrif-ten. Ihr Geld verdient sie zu diesem Zeitpunkt als Verkäufe-rin, dann in einem Büro und als Lehrerin. Es gibt Zeiten, in denen sie drei Teilzeitjobs hat, um über die Runden zu kommen. Und all diese Erfahrungen fließen in ihre Dichtung ein.
Sie schreibt auch Stücke für die Bühne, leitet später ein Kindertheater. Diese Tätigkeit liegt ihr besonders am Herzen, findet aber lange Zeit keine Anerkennung als Teil ihres Schaffens. Auf einige der Stücke, wie auch auf solche für Erwachsene, geht Hildegark E. Keller explizit ein. Sie beschreibt völlig falsche Inszenierungen, die Stornis Werke im Kern zerstören. Schreibt aber auch über die Freude, die sich die Dichterin nicht nehmen lässt und ihre fantasievollen Einfälle.
Hildegard E. Keller berichtet mit Vergnügen über die Paraden Alfonsins Stornis gegen ihre Gegner, die von Mut und Ironie zeugen.
Man begegnet großen Namen wie Jorge Luis Borges, der ein erbitterter Feind Alfonsinas war, oder Gabriela Mistral, mit der sie eine Freundschaft verband. Es tauchen viele Personen auf, die uns heute in Europa nicht mehr unbedingt vertraut sind, von der Biografin aber kenntnisreich eingeordnet werden. So setzt sich nach und nach das Bild zusammen, das Alfonsina Storni von verschiedenen Seiten zeigt.
Dieses mit Worten erarbeitete Bild wird ergänzt durch sehr viele Abbildungen, die in diese zwei schmucken Bücher, deren relativ kleines Format gut in der Hand liegt, aufgenommen wurden. Sie stammen aus Archiven oder Privatbesitz und vermitteln in großer Bandbreite Aspekte des Lebens und Schaffens der Dichterin und ihrer Zeit.
Hildegard E. Keller hat den Denkmalen über Alfonsina Storni kein weiteres hinzugefügt. Wie es ihr auch schon in ihrem Roman Was wir scheinen über Hannah Ahrendt gelungen ist, baut sie auch hier eine Brücke. Man steht nicht ergriffen vor einer statischen Figur, sondern nimmt Teil an der Entwick-lung einer Frau und ihres Werkes.
Viele Zitate aus Stornis Schriften oder auch aus Interviews bilden die Grundlage der Biografie. Farblich gekennzeichnet ist zu sehen, aus welchem Buch Stornis die betreffende Stelle stammt, eine so einfache wie kluge Lösung.
Die Biografin leitet ein Thema ein oder fasst am Ende eines Abschnitts zusammen, indem sie auf den Text verweist und nicht ihrer eigenen Fantasie freien Lauf lässt:
"Alfonsina Storni nimmt sozialpolitische Fragen ernst.
Sie leuchtet tote Winkel der Gesellschaft aus, gibt ihren Zeitgenossen Futter zum Denken und, hoffentlich, auch zum Umdenken. Sie äußert sich zu einem spektakulären Gerichts-fall in Buenos Aures. "Vom Recht, zu betrügen und zu töten" diskutiert einen Mord, der vor den Augen der Richter begangen wird." Dann geht sie ausführlich auf diesen Text ein.
An anderer Stelle beschreibt sie eingehend Alfonsina Stornis Theaterstück "Cymbeline kurz nach 1900", bis hin zur Bühnentechnik. Ihr Fazit:
"Das Metatheater der Alfonsina Storni ist einzigartig in Lateinamerika um 1930. Die avantgardistische Bühne lässt an das Piscator-Kollektiv in Berlin denken, die Figuren, die sich selbst und ihre Autorin kommentieren, an Luigi Pirandello, Miguel de Unamuno und andere, die mit künstlerischen Mitteln über Wirklichkeit und Fiktion nachdenken. Dieses Talent zur spielerischen Reflexion zeichnet auch Alfonsina Stornis Feuerwerksfarcen aus. Sie fordert ihre Figuren auf der Bühne zum Wachsen heraus. Nichts ist statisch. Alles kann ins Leben zurückkehren. Cymbeline kurz nach 1900 ist ein paradoxes Stück über die (Un-)Endlichkeit."
Dieses "Talent zur spielerischen Reflexion" hat auch Hildegard E. Keller. Sie zimmert keine Fantasiefigur zusammen, erfindet keine Alfonsina Storni. Sie sammelt, belegt, bündelt, denkt weiter, unterfüttert und hintermalt. Als profunde Kennerin des Werks der Alfonsina Storni und der südamerikanischen Literatur schöpft die Hispanistin, Übersetzerin, Verlegerin, Filmemacherin und Podcasterin aus einem tiefen Brunnen. Dieses geballte Wissen vermittelt sie ohne einen Anflug von Besserwisserei, sie vermittelt viel mehr ihre Freude am Thema und am Schreiben.
Sehr große Empfehlung!
Hildegard E. Keller: Wach & Frei -
Vom Leben und Weiterleben der Alfonsina Storni
edition maulhelden, 2024
Band 1: 288 Seiten, Band 2: 336 Seiten
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