Hildegard E. Keller - Was wir scheinen

Im letzten Sommer ihres Lebens reist die große Denkerin, Philosophin und Dichterin Hannah Arendt noch einmal nach Tegna im Tessin. Dort möchte sie sich erholen, lesen, schreiben, die Natur genießen, nichts tun. Vor allem letzteres gelingt ihr nur mäßig, zu leb-haft ist ihr Geist, zu interessiert an allem, zu neugierig auf Menschen und ihre Geschichten ist sie noch immer.

 

Hannah Arendt wird 1906 in Hannover geboren, wächst

in Königsberg in einem liberalen Haus auf, studiert in Marburg und Heidelberg, lässt sich schließlich in Berlin nieder. In ihrer wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit verknüpft sie von Anfang an Fragen der Aufklärung mit denen des Judentums und der Herrschaft.

1933 emigriert sie nach Paris, nach einer kurzen Internierung in Gurs 1940 gelingt ihr 1941 die Flucht über Lissabon in die USA. Dort kommt sie zusammen mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher und ihrer Mutter an.

 

Hannah Arendt ist nun Mitte dreißig und dabei, eine der führenden Intellektuellen zu werden.  Der endgültige Durchbruch auf dem Weg zur Berühmtheit ist ihr Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961. 

Sie reist als Reporterin für den New Yorker dorthin, ihr Buch erscheint einige Zeit nach dem Prozess.

 

Auch für Hildegard E. Keller, die in ihrem Roman die ganze Hannah Arendt, die Denkende und Schreibende, die öffentliche und auch die Freundin, Geliebte, Tochter, die private Hannah, zeigt, ist dieser Prozess ein Ereignis, das das Leben ihrer Protagonistin in ein davor und ein danach teilt.

 

Interessant und verschiedene Lesarten zulassend, besteht der Roman aus drei Teilen. In diesen wechseln sich jeweils die im Jahr 1975 in Tegna spielenden Kapitel mit jenen ab, die in der Vergangenheit in Manhattan, Zürich, Rom, Berkeley oder Köln spielen. 

So wandern die Erinnerungen der im Tessin sich an gutem Essen und Wein, hüpfenden Vögeln oder klaren Bergseen erfreuenden Protagonistin zurück zu Begegnungen mit Freunden, Kollegen, Weggefährten, zu Diskussionsrunden und Ereignissen politischer oder privater Art.

 

In den Abschnitten, die sich konkret ihren Aufenthalten und Erlebnissen zum Beispiel in Jerusalem widmen, erleben die Lesenden ganz direkt das Geschehen mit. Man passiert mit ihr den Sicherheitscheck zum Gerichtssaal, blickt auf den Glaskasten, in dem Eichmann sitzt, schaut den Richtern und Verteidigern ins Gesicht. Geht mit Hannah die lebensnot-wendige Zigarette rauchen, erlebt ihre Kraft, mit der sie die Anwürfe nach der Veröffentlichung des Berichts bewältigt.

Erlebt auch mit, wie sie im Gespräch mit Heinrich um den richtigen Titel für das Buch ringt, nimmt an einer Teestunde mit Ingeborg Bachmann in New York teil, erlebt die tiefe Freundschaft zu ihrem Doktorvater Karl Jaspers und dessen Frau Gertrud oder ihrem alten Freund Kurt Blumenfeld mit.

 

So entsteht aus Reflexion und Imagination das Bild eines Menschen, der seine ganze Kraft in den Dienst der Aufklärung stellt - und in den Dienst der Freundschaft.

 

Denn eine große Freundin muss sie gewesen sein, begabt durch ihre Empathie, die sie auch dem Hafenarbeiter, dem Taxifahrer, der Verlagssekretärin oder den Hotelangestellten entgegenbringt.

 

Man kann den Roman Seite für Seite lesen, d.h. abwechselnd zwischen den Tessiner Tagen und den Rückblicken.

Oder man reiht die Eindrücke dieses letzten Sommer aneinander und liest in einem zweiten Durchgang die Erinnerungen. Die des ersten Teils, der sich dem Rückblick auf die Zeit der Ankunft in den USA bis in die frühen 1950er widmet, gefolgt vom Schwerpunkt Jerusalem 1962/62 in Teil zwei und dem dritten Teil, der sich von Juli 1963 - März 1969  erstreckt. 

Beide Varianten sind in sich schlüssig, zeichnen ein genaues Porträt und lassen die beeindruckende Frau lebendig werden.

 

Ein Highlight des Buches ist für mich die Wiedergabe einer Fragestunde von Studierenden in Köln 1964.

Diese Fragen und Antworten sind eine Art Durchgang durch das Denken Hannah Arendts, die ja auch Professorin war und Erfahrung mit jungen Studierenden und Suchenden hat.

 

"Lassen Sie mich etwas zur Philosophie sagen, das haben Sie ja gewählt. Philosophie beginnt mit dem Staunen über alles, was ist und wie es ist. Nur wenige erfahren dieses Staunen. Warum ist das so? Weil man es erleiden muss. Es ist ein pathos. Plato spricht von einer philosophischen Erschütter-ung. "

"Man muss lernen, sich unverblümt die Wahrheit sagen zu lassen. Das wünsche ich Ihnen."

"Seien Sie um Himmels willen kein Funktionär, sondern eine Person. Stop and think. Denken ist nicht ungefährlich, aber ich halte das Nichtdenken für gefährlicher."

"Das Fernsehen ist unerlässlich für das moderne Image-making, weil das Bild von mir länger lebt als ich selbst." 

"Ja, diese Banalität des Bösen hat ungeheuer schockiert, und das verstehe ich, denn ich selber war auch schockiert.

Darauf waren wir alle nicht vorbereitet, dass der Täter von so banalem Zuschnitt wäre. ...  Meine wichtigste Absicht, als ich mein Eichmann-Buch schrieb, war, dass ich diese Legende von der Greatness of Evil zerstören wollte."

"Ich gehöre keiner Organisation an, ich spreche immer nur im eigenen Namen."

 

Die Zitate zeigen den klaren Stil Hannah Arendts und ihre Zugewandtheit zu den jungen Menschen vor ihr. Sie zeigen auch das Geschick Hildegard E. Kellers, verschiedene Aspekte des Denkens der Philosophin bzw Theoretikerin, wie sie sich selbst lieber nannte, in den Roman einzuflechten.

Der Hörsaal ist nicht die große Weltbühne, aber auch kein privater Raum. In dieser `kleinen Öffentlichkeit´ spricht sie über ihr Werk, erzählt aber auch von Familie, verrät zum Beispiel, wie sie kocht. 

 

Im Nachwort der Taschenbuchausgabe schreibt Hildegard E. Keller sinngemäß, dass sie beim Schreiben des Buches auf Hannah Arendts Schulter saß, "nah am Herzen, nah am Kopf." 

 

Ganz nah kommt sie ihr in dem Märchen "Das kleine Mädchen und die Gans". Die Autorin fand das Märchen im Hannah Ahrendt Archiv, transkribierte es, hier ist es nun erstmals auf Deutsch zu lesen. Es erzählt von einem Mädchen, das auszog, die Erkenntnis zu finden, verbindet die drei Teile miteinander und lenkt den Blick noch einmal auf das Herzensanliegen Hannah Arendts: die Freiheit des Denkens.

 

Diesen Roman ein Denkmal zu nennen wäre viel zu statisch. Er ist eher eine Brücke, die lesend zu überqueren eine große Freude ist. Für Herz und Kopf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hildegard E. Keller: Was wir scheinen

Eichborn Verlag, 2021, 576 Seiten

Taschenbuchausgabe: Eichborn Verlag, 2022, 575 Seiten