Richard Hughes - Orkan über Jamaika

Dieser Abenteuerroman erschien erstmals 1929, nun wurde er in einer Neuübersetzung im Dörlemann Verlag wieder aufgelegt. Zum Glück für den Leser, denn was für ein frischer Text, der in eine ferne Welt entführt, die keineswegs romantisch betrachtet wird, sondern mit einigen tollen Überraschungen aufwartet.

 

 

Im Mittelpunkt steht die zehnjährige Emily Thornton.

Sie lebt mit ihren Eltern, dem älteren Bruder John und drei kleineren Geschwistern (der Einfachheit halber einfach die "Krümel" genannt) auf dem Landgut Ferndale auf Jamaika.

Landgut ist ein Euphemismus für das runtergekommene Haus mit dem verwilderten Land drumherum in dem die Familie lebt und versucht, noch ein bisschen englische Lebensart und Anstand aufrecht zu erhalten. Was nur mäßig gelingt. Zu übermächtig ist die Natur und das Klima: es gibt Tage, die die Kinder in schlammigen Tümpeln liegend verbringen, für alles andere ist es zu heiß. Dass sie dabei von allerlei Ungeziefer geplagt werden versteht sich von selbst, aber das gehört zum Leben in den Tropen dazu, es gibt keine andere Möglichkeit, als sich damit abzufinden.

 

Sinnbild für ihr Festhalten an europäischen Grundsätzen ist das Tragen von Schuhen, zumindest, wenn man Besuche macht. Emily ist ziemlich entsetzt, als sie die Familie Fernandez besucht und dort die Kinder barfuß laufen wie die Eingeborenen. Das bringt sie mehr durcheinander als die Tatsache, dass in Johns Zimmer Ratten und Fledermäuse hausen (und sicher nicht nur dort). Aber: für englische Kinder ist Jamaika das Paradies. Sie genießen dort eine Freiheit, die im Mutterland undenkbar ist.

 

Das beeindruckendste Erlebnis für Emily ist ein Erdbeben: nach diesem, so meint sie, kann nichts Erschütternderes dazukommen, egal wie alt sie wird.

Da hat sie sich getäuscht.

Eines Nachts fegt ein Orkan über die Insel, der alles vernichtet, was mühsam aufrecht erhalten wurde. Das Haus wird zerstört, die Landschaft sieht völlig verändert aus, die Vegetation ist nicht mehr da, sie liegt zermatscht am Boden. Die Familie ist gezwungen, in ein kleines, fensterloses Gebäude zu ziehen, es ist aus Stein und hat standgehalten.

 

Für die Thorntons ist es aber ein Zeichen: es ist Zeit, die Kinder nach England zu schicken. Um eine Ausbildung zu erhalten, um zivilisierte Menschen zu werden.

"Der Himmel hatte eine Warnung gesandt, die Kinder mussten weg."

Für Emily ist die Tatsache, dass die geliebte Katze Tabby von Wildkatzen in den Dschungel gejagt und dort ermordet wurde von größerer Bedeutung: Kinder habe eine andere Art, Dinge zu beurteilen und zu gewichten.

 

Alle Kinder der Thorntons, sowie Margaret und Harry Fernandez, werden auf die Clorinda eingeschifft um nach England gebracht zu werden.

Captain Marpole nimmt sie in Empfang und er ist derjenige, der kurze Zeit später den Eltern berichten muss, dass sein Schiff von Piraten überfallen wurde und sämtliche Kinder dabei umgekommen wären.

Er hat die Ermordung mit eigenen Augen gesehen, den einzigen Trost, den er den verzweifelten Eltern geben kann, ist, dass "sie auf der Stelle getötet und ihre kleinen Leichen ins Meer geworfen" wurden.

Die Eltern, so erfährt man später, verlassen daraufhin Jamaika und kehren nach England zurück.

 

Soweit Ende des Zweiten Kapitels von zehn.

Im dritten Kapitel ist zu lesen, wie die Kaperung vonstatten ging und was mit den Kindern geschah. Sie werden alle an Bord genommen und vergnügen sich dort prächtig, nachdem sie sich eingewöhnt und ihre Scheu vor den fremden Männern abgelegt haben.

Das einzige Opfer ist John: er stürzt aus zwölf Meter Höhe zu Boden und bricht sich das Genick. Die Kinder sprechen niemals über ihn, es ist, als hätte es John nie gegeben.

 

Die Kinder schlafen im Laderaum, wo sie sich in ihrem "Bettenparlament" Gedanken darüber machen, ob sie nun auf einem Piratenschiff sind oder nicht. Aber auch diese Überlegungen sind schnell wieder vergessen, wenn sie auf dem Deck herumrutschen oder Verstecken spielen.

Sie leben in derselben unbekümmerten Wildheit wie in ihrem jamaikanischen Dschungel, sie haben sich und können sowieso nichts an ihrer Situation ändern.

Sie freunden sich mit Jonsen, dem Kapitän, und Otto, dem Maat, an und vertrauen diesen beiden Männern.

 

Emily liegt mit einer Beinverletzung in der Kapitänskajüte, da kapert die Mannschaft ein Schiff. Der holländische Kapitän wird gefesselt zu ihr hereingebracht, sie soll auf ihn aufpassen. Der Mann sieht ein Messer, versucht es zu erreichen, um seine Fesseln durchzutrennen. Da greift Emily das Messer und sticht in großer Angst vor ihm auf ihn ein.

Er ist tot. Da später Margaret verstört an der Tür gefunden wird, ist man sich einig, dass diese die Täterin ist und wirft sie ins Meer. Doch sie wird wieder herausgefischt, für die Männer ist das Thema damit erledigt. Nicht so für Emily.

Sie leidet große Seelenqualen, aber ihre kindliche Robustheit sorgt dafür, dass sie das Geschehen auch wieder vergisst.

 

Bei der nächsten Gelegenheit möchte Jonsen die Kinder loswerden. Mit einem Trick übergibt er sie einem Passagierdampfer. Dort werden sie gefeiert wie Auferstandene, wie Unsterbliche. Die Kunde ihres Todes hatte sich weit verbreitet, nun sind sie plötzlich alle (bis auf John) wieder da.

 

Auf diesem Schiff kommen die Kinder zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich mit der Zivilisation in Berührung.

Es ist keine Rückkehr in selbige, sondern eine Ankunft.

Sie finden Freunde, werden hofiert und natürlich auch ausgehorcht.

Was mag alles passiert sein auf dem Schiff?

In einer schwachen Sekunde gesteht Emily einer Stewardess, dass sie auf einem Pirtenschiff waren, das war den Beteiligten bisher nicht klar gewesen.

Nun werden Jonsen und seine Männer gejagt. Und gefangen.

 

Die Kinder kommen nach London, dort muss Emily als Zeugin in dem Gerichtsprozess gegen die Männer aussagen, gegen die sie absolut nichts hat, denen sie sich freundschaftlich verbunden fühlt. Praktischer Weise hat der Anwalt Mr. Mathias ihr alle Antworten auf seine Fragen aufgeschrieben, sie muss sie vor Gericht nur auswendig aufsagen. Das tut sie auch. In einem Punkt gibt es eine Abweichung vom Drehbuch: nach dem holländischen Kapitän gefragt, bricht es aus ihr heraus:

 

"Durch Emilys Tränen hörte sie, alle hörten sie es, die Worte:

"...Er lag in seinem Blut...es war schrecklich! Er...er ist gestorben, er hat noch etwas gesagt...und dann ist er gestorben!"

 

Auf die Idee, dass Emily diejenige war, die das Messer führte, kommt niemand. Ein jeder denkt, sie hätte referiert, was sie gesehen hat. Mr. Mathias wollte die Kinder zu "Werkzeugen der Gerechtigkeit schmieden", er meint, das sei ihm gelungen.

Emily weiß nichts über die Tragweite ihrer Aussage, sie weiß und erfährt auch nie, dass die Männer zum Tode verurteilt werden.

 

Der Roman schlägt den Bogen von der Wildnis in die Zivilisation. Die Kinder sind völlig unschuldige Wesen, sie überstehen alle Gefahren und Abenteuer, weil sie im Grunde nicht wissen, was um sie herum vorgeht.

 

Mr. Mathias erscheint die Zuneigung der Kinder zu Kapitän, Maat und Mannschaft absolut unwahrscheinlich, die Aussage Mr. Thorntons "Ist aber eine Tatsache" tut er mit einem Achselzucken ab.

 

Hier greift der Autor ein:

"Ein Anwalt für Strafsachen beschäftigt sich schließlich nicht mit Tatsachen. Er beschäftigt sich mit Wahrscheinlichkeiten. Der Romancier beschäftigt sich mit Tatsachen, seine Aufgabe ist es, zu sagen, was ein bestimmter Mensch in einer bestimmten Situation getan hat; von einem Anwalt kann man nicht erwarten, dass er mehr aufzeigt als die wahrscheinliche Handlungsweise eines gewöhnlichen Menschen unter mutmaßlichen Umständen.

Als Mathias diese paradoxe Überlegungen anstellte, lächelte er etwas verbissen. Was ihm da durch den Kopf ging, durfte er nie und nimmer laut sagen."

 

Hier wird die gewöhnliche Sichtweise umgedreht, so wie die Anwälte und der Richter die Wahrheit verdrehen.

Weil diese nicht in ihre Vorstellung passt.

Nur der Dichter kennt die Wahrheit. Er hat sie erzählt.

 

In den Roman eingeflochten sind Überlegungen zum Thema Kindheit, Vertrauen, Bedeutung von Ereignissen, Entdeckung des eigenen Ich, Hineinwachsen in die Welt der Erwachsenen, Verstöße der Erwachsenen gegen das, was sie so gerne predigen - und das in einem bunten Mix aus Spaß und Schrecken, Beobachten und Handeln.

 

Ein großartiger Roman, Hughes versteht die Kunst des Geschichten-Erzählens.

 

 

 

 

 

 

 

Richard Hughes: Orkan über Jamaika

Neu übersetzt von Michael Walter

Dörlemann Verlag, 2015, 256 Seiten

Fischer Taschenbuch, 2017, 256 Seiten

(Originalausgabe: 1029)