E.T.A. Hoffmann - Der Sandmann
Neu erzählt von Anna Kindermann, mit Bildern von Dorota Wünsch
Anlässlich des 200. Todestages des Dichters E.T.A. Hoffmann am
25. Juni 2022 ist eine seiner bedeutendsten Erzählungen in der Reihe "Weltliteratur für Kinder" erschienen. Nacherzählt in einer für Kinder verständlichen Sprache, die jedoch an den Stil des Originals angelehnt ist, und illustriert mit opulenten, ebenfalls die Vergangenheit in der Gegenwart evozierenden Bildern, ist diese feine Ausgabe ein wunderbarer Einstieg in die Kunstmärchen der Romantik.
Zu Beginn der Erzählung ist die Welt des kleinen Nathanael noch in Ordnung. Die Familie versammelt sich abends um den Tisch, der Vater erzählt eine Geschichte. Bis völlig unerwartet "Trübsal in das sonst so frohe Haus einkehrte".
Ein Besucher kommt - vom Vater scheint er bereits mit Angst erwartet worden zu sein - die Kinder müssen schnell ins Bett, sie sollen ihm nicht begegnen. Wer ist dieser Mann?
Die Mutter ruft: "Zu Bette, zu Bette! Der Sandmann kommt, ich merk es schon". Doch sie beruhigt, sagt, das sei nur eine Redewendung um auszudrücken, wie müde die Kinder seien, sie können die Augen nicht mehr offen halten, "als hätte man euch Sand hinein gestreut".
Die alte Kinderfrau wird da konkreter: "Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern ... Dann raubt er ihnen die Augen und verschwindet damit auf dem Mond."
Nathanael fährt der Schreck in die Glieder. Es ist ein existentieller Schrecken, den er ein Leben lang nicht mehr
los werden wird. Nach ein paar Jahren der Ruhe taucht der ominöse Besucher - ist er tatsächlich der augenraubende Sandmann? - wieder auf, er und der Vater verfolgen ihre alchimistischen Experimente weiter, bis es zu einem Brand kommt, der den Vater das Leben kostet.
Jener fürchterlich aussehende Besucher ist der alte Coppelius, die Illustratorin Dorota Wünsch folgt mit ihrer Darstellung des Mannes der Beschreibung E.T.A. Hoffmanns:
Coppelius war ein "breitschultriger Mann mit einem unförmig dicken Kopf, erdgelbem Gesicht, buschigen Augenbrauen ... (und) großen, haarigen Fäusten", sie stattet ihn außerdem mit gefährlich düster-funkelnden Augen aus.
In mehreren Wellen bis ins Erwachsenenalter hinein verfällt Nathanael verschiedenen Formen des Wahnsinns. Immer wieder schafft er es, die Ängste, die Verblendungen, die Irrwege zu verlassen und sich erneut dem täglichen Leben, den Verbindungen zu lieben Menschen oder seinem Studium zuzuwenden. Doch Coppelius taucht wieder auf, das einmal entfesselte Böse lässt sich nicht final bannen.
Es nimmt kein gutes Ende mit Nathanael, doch, auch wenn
es ein Kunstmärchen der Schwarzen Romantik ist, endet es nicht ohne einen positiven Ausblick. Clara, die ehemalige Verlobte Nathanaels, die er ihm Wahn beinahe von einem Turm gestürzt hätte, findet ihr Glück mit einem Ehemann und "zwei munteren Knaben".
Die Bilder zeichnen sich durch eine große räumliche Tiefe aus. Ihre Farbgebung ist warm, die Formen vorwiegend rund. Sehr spitz ist dagegen die Nase des Sandmanns, lang auch die des Professors Spalanzani, der eine Marionette als seine Tochter ausgibt. Diese schöne, stets nur "Ach, ach" seufzende Olimpia, deren Inneres aus einem Räderwerk besteht, und in die sich Nathanael verliebt, hat dicht bewimperte Katzen-augen, ganz anders als die Knopfaugen der übrigen Akteure.
Kinder werden sich an die Figuren Ali Mitgutschs erinnert fühlen, deren sprechende Augen ihre Gefühle ausdrücken.
Das für die Erzählung wichtige Motiv der Augen zieht sich in verschieden gestalteten Gläsern, wie Brillen oder auch künst-lichen Augen, durch das Buch. Viel Aufmerksamkeit liegt auch auf der Darstellung der Räume oder der Landschaft, die Malerin bettet die Personen in eine jeweils dem Inhalt entsprechende Umgebung ein. Das ergibt einen stimmigen Gesamteindruck, der den Inhalt der Erzählung unterstreicht.
Die Gestaltung folgt der Nacherzählung Anna Kindermanns, die "keinen Anspruch auf einen lückenlosen Handlungsver-lauf im Vergleich zu E.T.A. Hoffmanns Werk" erhebt, sich aber an "dessen inhaltlichen Kern" hält.
Durch diese Konzentration auf das Wesentliche gewinnt und erhält sie die Aufmerksamkeit junger LeserInnen ab acht Jahren, die ihre Freude an diesem Buch haben werden. Vielleicht auch Fragen, denn es schwingen viele Themen mit in dieser Geschichte, in der Phantasie und Realität verschwimmen.
Anna Kindermann (Text) & Dorota Wünsch (Illustration):
Der Sandmann, nach E.T.A. Hoffmann
Kindermann Verlag, 2022, 44 Seiten, Halbleinen, gebunden, Fadenheftung, durchgängig 4-farbig
(Originalausgabe des Märchens 1816)