Wolfgang Herrndorf - Arbeit und Struktur
Ursprünglich war dieses Buch ein Blog, gedacht als Mitteilungsmedium für Herrndorfs Freunde.
Sie überzeugten ihn jedoch, die Texte jedem zugänglich zu machen, das Blog freizuschalten.
Der erste Eintrag ist vom 8.3.2010, am Tag zuvor war Herrndorf in die Psychiatrie eingeliefert worden.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er die erste von drei Hirnoperationen hinter sich, eine Bestrahlung und infolge all dessen mehrere Nächte ohne Schlaf. Der überwache Zustand führte zum Zusammembruch.
Nach einer Woche wird er wieder entlassen, er fährt nach Hause, räumt auf und beginnt zu arbeiten.
Im Februar 2010 wird bei Herrndorf ein Tumor, ein Glioblastom (unheilbar), diagnostiziert.
Er googelt viel herum, Statistiken, Medikamente, Überlebenschancen etc, seine liegt bei 17,1 Monaten.
Es werden dreieinhalb Jahre, der letzte Eintrag im Blog ist vom 20.8.2013, am 26.8.2013 erschießt er sich.
Das Todesurteil der Diagnose setzt einen unglaublichen Schub an Produktivität in Gang.
Herrndorf vollendet zuerst den Jugendroman "Tschick", der den Jugendbuchpreis bekommt, eine Millionenauflage erreicht, in viele Sprachen übersetzt und Schullektüre wird. Danach schreibt er den Wüstenroman "Sand" fertig, für diesen erhält er 2012 den Leipziger Buchpreis. Erfolge, die ihn reich machen nach 25 Jahren am Existenzminimum. Dies ist ihm jetzt nicht mehr wichtig.
Für die beiden Romane hatte Herrndorf jahrelang vorgearbeitet, an beiden parallel. Unmittelbar nach der Diagnose wird ihm klar, dass es für die kurze Zeit, die ihm noch bleibt nur eine Möglichkeit gibt, um nicht verrückt zu werden: arbeiten, der Zeit eine Struktur geben.
Nach der Fertigstellung von "Sand" arbeitet er noch an "Isa" und er wendet immer mehr Zeit für sein Blog auf. Immer wieder denkt er darüber nach, es einzustellen, da es zuviel Zeit kostet und immer anstrengender wird, aber es entwickelte sich auch zu einem eigenständigen Stück Literatur.
Neben der Arbeit braucht er eine "Exitstrategie".
"Weil, ich wollte ja nicht sterben, zu keinem Zeitpunkt, und ich will es auch jetzt nicht. Aber die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an notwendiger Bestandteil meiner Psychohygiene. ... Ich muss wissen, dass ich Herr im eigenen Haus bin. Weiter nichts." (30.4.2010)
Das Buch, herausgegeben von Herrndorfs Freunden Marcus Gärtner und Kathrin Passig, ist ein Dokument eines Menschen, der keine Zeit zu verlieren hat, der sich auf den Tod vorbereitet.
Mit unglaublicher Klarheit, der Aufklärung verpflichtet, atheistisch und auf Eigenständigkeit bedacht schreibt Herrndorf sein Blog. Es finden sich eher Selbstironie als Selbstmitleid, nie die Frage "warum ich?", sondern "warum nicht ich?".
Im Lauf der Zeit addiert sich ein Krankheitsbild zum anderen.
Er leidet an Sichtfeldausfall und Orientierungslosigkeit, spielt trotzdem so lange es geht Fußball und fährt mit dem Rad durch Berlin (wenn er nicht mehr nach Hause findet übers Handy ferngesteuert von C., seiner Frau).
Müdigkeits- und Panikattacken, Konzentrations- und Sprachstörungen begegnet er mit Schreiben (Google hilft, die Freunde helfen). Er entwickelt eine Form von Epilepsie, die ihm an manchen Tagen mehrere Anfälle beschert, die episondenweise gar nicht mehr richtig enden, er lernt damit umzugehen, verzichtet auch nicht auf das Schwimmen im Plötzensee bei fast jeder Temperatur. Im schlimmsten Fall würde er ertrinken.
Was hier in einem Absatz referiert wurde, ist die komplette Veränderung eines Lebens.
Erträglich gemacht durch die immens große Hilfe der Freunde (darauf kommt Herrndorf immer wieder zu sprechen), große Selbstdisziplin und auch immer wieder die Verwunderung darüber, wie gut es ihm psychisch und physisch geht. Lange Zeit hat er keine Schmerzen, er erinnert sich z.B. daran, ein größeres Gefühl von Verzweiflung in Zeiten von unglücklichem Verliebtsein empfunden zu haben.
Natürlich ist er manchmal wütend, spart nicht mit Kritik an einigen Schriftstellerkollegen oder am Allgemeinzustand der Welt und des Feuilletons. Oder es kommen ihm die Tränen, wenn er Kinder sieht. Manchmal kann er nicht mehr, oder er will nicht mehr. Findet nur noch ein wenig Trost darin, Cs Hand zu halten.
Er konstatiert: "Ich verändere mich... , aber so bin ich nicht, und ich will derselbe sein bis zum Ende" (17.12.2012).
Am 21.5.2013 schreibt er:
"Dramarischer Sprachverfall. ... Jeden Satz im Blog mit größter Mühe zusammengeschraubt. Freunde korrigieren."
Mitte Juli der Befund "Glioblastom beiderseits progressiv. Ende der Chemo. OP sinnlos. ... Viele Taschentücher habe ich in dieser Praxis nicht gebraucht. Heute brauche ich eins."
"Unter Leben verstehe ich ein schmerzfreies Leben mit der Möglichkeit zur Kommunikation" (12.6.2012).
Das ist nicht mehr gegeben. Im August 2013 kann Herrndorf nicht mehr schreiben, nicht mehr lesen, nicht mehr sprechen, vergisst den Namen seiner Frau, epileptische Anfälle dauern manchmal Stunden.
Herrndorf hat seine Existenz verschriftlicht.
Im Beschreiben des Ist-Zustandes, in Rückblenden.
Im gesamten Text schreibt er "ich". Praktisch nie kommt das Wort "man" darin vor - keine überpersönlichen Sätze mit Allgemeingültigkeitsanspruch, keine (halb)philosophischen, von jedermann anwendbaren Lebensweisheiten.
Und trotzdem keine Selbstdarstellung, wie man sie aus dem öffentlichen Leben kennt.
Es ist der Text eines Menschen, der keine Zeit mehr für Nebensächlichkeiten hat.
Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur
Rowohlt Berlin, 2013