Dörte Hansen - Altes Land

"Vielleicht bekam man es vererbt, wenn man hineingeboren wurde in eine dieser Marschfamilien, wenn man Teil eines Fachwerks war von Anfang an. Man kannte seinen Platz und seinen Rang in dieser Landschaft, es ging immer nach dem Alter: Erst kam der Fluss, dann kam das Land, dann kamen die Backsteine und Eichenbalken und dann die Menschen mit den alten Namen, denen das Land gehörte und die alten Häuser. Alles, was dann noch kam, die Ausgebombten, Weggejagten, Großstadtmüden, die Landlosen und Heimatsucher, waren nur Flugsand und angespülter Schaum. Fahrendes Volk, das auf den Wegen bleiben musste."

 

Mit diesem Zitat aus der zweiten Hälfte des Romans ist sein Thema klar umrissen: Wie definiert sich Heimat, wie kann man überhaupt irgendwo heimisch werden?

 

Da sind zunächst Hildegard von Kamcke, die im Frühjahr 1945 zusammen mit ihrer knapp fünfjährigen Tochter Vera bei Ida Eckhoff vor der Tür steht und widerwillige Aufnahme findet: freilich nur in der Knechtekammer.

Später wird Hildegard Idas Sohn Karl heiraten, der äußerlich wenig versehrt aus dem Krieg zurückkehrt, dessen Schatten ihn aber bis zu seinem Tod mit über neunzig verfolgen.

 

Das "Polackenpack" wird geduldet, manchmal sind die Anfeindungen versteckt, manchmal offen, manchmal sind die Zustände kriegsähnlich.

Als Hildegard zur Schwiegertochter wird und ins Haus einzieht, zwei Frauen sich einen Herd teilen müssen (das ging noch nie gut) eskaliert die Situation. Ein verrückter Schrank bringt das Fass zum Überlaufen: Ida nimmt den Strick und hängt sich auf dem Dachboden auf.

 

Vera ist vierzehn, als ihre Mutter Hildegard den Hof verlässt. Sie hat einen neuen Mann, zieht zu ihm nach Blankenese. 

Vera bleibt bei Karl, besucht die Mutter und ihre kleine Schwester Marlene selten, fällt immer durch, weil sie nicht die besten Manieren hat, geht schließlich nicht mehr hin.

 

Vera wird Zahnärztin, sie bleibt zusammen mit Karl auf den Hof. Sie hat zwei große Hunde, Pferde, die nur sie reiten kann, hält wenig von Ordnung im und ums Haus, sie ist eine Einzelgängerin, viele halten sie für verrückt.

 

"Welcher Altländer Mann, der ganz bei Trost war, würde Vera Eckhoff heiraten? Frühmorgens pirschte sie in Karls alter Lodenjoppe durch die Obstplantagen und knallte Hasen und Rehe ab."

 

Bei dieser Frau steht plötzlich Anne vor der Tür, zusammen mit ihrem Sohn, dem zweijährigen Leon.

Anne ist Marlenes Tochter, knappe vierzig, sie ist aus ihrer Beziehung mit Christoph geflüchtet, weil er sie betrügt. 

Sie ist aus dem schicken Hamburg-Ottensen geflüchtet mit seinen überkandidelten Müttern, die sie als Plage empfindet und sie ist geflüchtet aus ihrem Job als Musiklehrerin bei Musimaus, einer Institution für musikalische Früherziehung.

 

Anne und Leon kommen unter im Altenteilerhaus, Leon geht bald in den Kindergarten, der so ganz anders ist als die Kita in Hamburg, er freundet sich mit Nachbarskindern an und fühlt sich wohl. Schnell erobert er Veras Herz, die alte Frau, die nicht an Menschen gewöhnt ist, sieht plötzlich einen Teil ihrer selbst in ihm gespiegelt.

 

In jeweils eigenen Kapiteln werden die Beziehungen zwischen Marlene und Vera, Marlene und Anne, die eher Nicht-Beziehungen der Schwestern Marlene und Vera zu ihrer Mutter Hildegard beleuchtet, in Rückblicken, Gesprächen und immer wieder auch durch die Schilderungen des Hauses und seines Verfalls.

 

Das große alte Haus, an dem nie etwas renoviert wurde, ist ein weiterer Protagonist des Romans. Für Vera ist es Obdach, aber es ist in Jahrzehnten nicht Heimat geworden.

Vielleicht weil sie darin zurückgelassen wurde. 

Anne, die auch nicht aus freien Stücken in das Haus kam, geht anders damit um. Sie, die nicht nur Musiklehrerin, sondern auch gelernte Tischlerin ist, nimmt die Erneuerung des Hauses in ihre Hände. Manchmal muss bei den Arbeiten eine Pause eingelegt werden, damit Vera innerlich Schritt halten kann. Aber sie schafft es, lässt die Veränderung zu.

 

"Als der Sommer kam, und das Haus stand wie ein altes Pferd, das sich beschlagen ließ, das brav die Hufe hob und sich nicht wehrte, kam Vera zum ersten Mal seit vielen Jahren der Gedanke, dass dieses Haus vielleicht nicht mehr sein könnte als ein Haus.

Kein Racheengel, der alte Frauen mit Wäscheleinen auf den Boden schickte, wenn man in seiner Diele einen alten Schrank verrückte. Der junge Männer mit den Knien und den Händen in die Scherben einer Bowleschüssel stieß, nur weil man eine alte Seitentür ersetzte.

Es war ein lächerlicher Kinderglaube, sie wusste es und schämte sich dafür bei Tag. 

Und glaubte fest daran bei Nacht. Sobald es still und dunkel wurde und die Vergessenen durch ihre Diele schlurften, die alten Stimmen aus den Wänden mit ihr flüsterten, dann traute sie dem Haus noch immer alles zu."

Das, was Vera nicht Personen anlasten möchte, überträgt sie auf das Haus.

 

Es gibt noch eine Art Flüchtlinge, die das Buch bevölkern: stadtmüde Gutverdiener, die die Einfachheit des Landlebens suchen. Die in Manufactum-Hosen auf maßgeschneiderten Sätteln auf dem Liegerad durch die Gegend fahren, Chutney produzierende Ehefrauen haben und einmal im Jahr eine große Party machen, zu der alle alten Freunde aus Hamburg anreisen, die alles ganz entzückend finden.

Und die dann nach einiger Zeit das Experiment abbrechen und ein neues Projekt in der Stadt starten, man ist doch zu weit weg von der Kultur da draußen und die Bauern verstehen einfach nicht, dass man sich besser vermarkten muss.

Die Darstellung der Stadtflüchtlinge bedient jedes Klischee und überzeichnet sicherlich, aber Hansen beschreibt diesen Menschentyp mit viel Ironie, das nimmt die Schärfe.

 

Ganz anders ist ihr Ton, wenn sie über Vera und ihre Schwester schreibt, über die Suche nach der verlorenen Mutter, die bis zum Lebensende nicht zu einem Ende kommt. Oder wenn sie erzählt, wie der Neuanfang für Anne ist, bei ihrer Tante Vera, der Einzelgängerin. Mit ihrer Mutter hätte sie es nicht ausgehalten unter einem Dach. Schon eine zehntägige Reise nach Ostpreußen - Marlene sucht das Elternhaus ihrer Mutter - ist eine Art Prüfung für Anne.

Sie bringt aber auch Verständnis, vor allem für Hildegard vom Kamcke, die ein Kind im Eis zurücklassen musste, Veras kleinen Bruder.

Hansen findet für diese Frauen, die nach der Flucht nicht mehr ins normale Leben fanden, emotional gestört waren, wie man heute sagt, ein gutes Bild: sie legten sich einen Eismantel um. So, wie man Obstblüten mit einer Eisschicht vor dem Erfrieren schützt. Was bleibt, ist eine Distanz zur Welt.

 

Ganz am Ende findet sogar Vera, die mit siebzig Jahren noch im Sitzen schläft (immer fluchtbereit) eine gewisse Ruhe.

Anne übernimmt die Verantwortung für das Haus und seine Bewohner.

 

 

 

 

 

 

 

 

Dörte Hansen: Altes Land

Knaus Verlag, 2015, 288 Seiten

Taschenbuch im Penguin Verlag, 2017, 288 Seiten