Alexis Pauline Gumbs - Unertrunken
Was ich als Schwarze Feministin von Meeressäuge-tieren lernte
Dieses Buch stellt nicht nur das seit Jahrhunderten eingeübte westliche Denken auf den Kopf, es plädiert für ein neues Sein des Menschen in der Welt. Eines, das sich nicht als herr-schendes, über allem thronendes Individuum sieht, sondern als Teil einer globalen Ordnung. In dieser existieren so viele beachtliche Wesen mit Fähigkeiten, die ihnen entgegen allen Versuchen, sie durch Kommerzialisierung und Ausbeutung auszurotten, ein Überleben ermöglichten. Von ihnen könnte der Mensch unendlich viel lernen. Der erste Schritt auf diesem Weg wäre die Erkenntnis des Verbundenseins.
Alexis Pauline Gumbs, geboren 1982, ist nebst Autorin, Poetin und Aktivistin auch Meeressäugerpraktikantin. Eine Faszination für das "wunder-volle Meeresleben" veranlasste sie, einige Handbücher zu erwerben.
"Ich wollte nur wissen, welcher Wal welcher ist, und fand mich konfrontiert mit den kolonialen, rassistischen, sexistischen, heteropatriarchalen, kapitalistischen Konstrukten, die mich zu töten versuchen - das Netz, in dem ich bereits gefangen bin, sozusagen. Wie kann ich dir also erzählen, wen und was ich sah?"
In den neunzehn Lektionen, sie nennt sie auch Meditationen, vereint die Autorin die Betrachtung wissenschaftlicher Forschungen, eigene Erfahrungen als Schwarze Feministin und ein tiefes Eintauchen in die Strategien und sozialen Zusammenhänge der Meeressäuger auf faszinierende Weise miteinander. Die so zarten wie eindringlichen Texte fordern auf, sich selbst neu in der Welt zu verorten. Zu erkennen, dass auch der (weiße) Mensch mit allen anderen Lebewesen verwandt ist, ohne sie nicht existieren kann.
"Dieses Handbuch des Unertrinkens hört auf die Meeres-säugetiere als eine Lebensform, die uns viel lehren kann über die Verletzlichkeit, Kollaboration und Anpassung, die wir brauchen, um mit dem Wandel in unserer Zeit Schritt zu halten, insbesondere in Anbetracht des größten Wandels, den wir in dieser Klimakrise erleben und verursachen: das Ansteigen der Meeresspiegel."
Die einzelnen Lektionen erzählen von den verschiedenen Unterwasserwesen. Alexis Pauline Gumbs berichtet von den Besonderheiten einer Robbe, eines Wals, eines Delfins.
Dann spricht sie von sich selbst als einem "ich", das von diesem Tier lernt. Häufig verwandelt sie sich in das Tier, hier ist dieses "ich" der/die/das zu uns sprechende Unertrunkene.
"Aus manchen Blickwinkeln könntest du mich für einen Stein halten. Ich habe Stoßzähne, aber die wirst du nicht sehen, solange ich es nicht will."
Ein Melonenkopf wird als "du" benannt - "Ich liebe es, wie du eine vielschichtige Schwärze lebst...", der Südamerikanische Seebär sagt: "Merkst du, dass ich nicht gut gelaunt bin", den Narwalen ruft sie im Plural zu: "Wie ich uns liebe, Schwarze Einhörner, ich liebe die Jugendlichkeit unserer Adaptation."
Rein sprachlich überschreitet die Autorin so die Grenzen zwischen Individuum und Gemeinschaft, Mensch und Tier.
Die Meditationen sind kein "politisches Programm", statt-dessen öffnen sie "Räume für gemeinsames Wundern". Die "absichtliche Unschärfe darin, wer wer ist, wer zu wem und wann spricht" fordert auf, "eine Definition des Menschen zu revidieren, die so verstrickt in Abgrenzung und Herrschaft ist, dass sie unsere Leben unvereinbar mit dem Planeten macht."
Die Überschriften der Abhandlungen sind Aufforderungen: Hören, Atmen, Erinnern, Üben, Kollaborieren, Verweigern, Schwarz bleiben, Ausruhen und weitere. Es wird aufgezeigt, wie Meeressäuger diese Tätigkeiten ausüben und was Menschen für sich daraus lernen können.
"Auch ich habe mich im Kreis gedreht, orientierungslos. Auch ich hatte Atemnot. Auch ich habe mich gefragt, wie ich so weit weg von dem gelangen konnte, was mein Körper und mein Geist brauchen. Und ich dache, ich sei fertig damit, über Streifendelfine zu schreiben, aber so viele von uns sind benommen und ausgelaugt, verunsichert und entfremdet. Was würde ich also sagen, wäre ich eine Streifendelfinin?"
Dieses Zitat entstammt der Lektion "Dem Kapitalismus ein Ende setzen". Hier wird besonders deutlich, dass das gesamte Buch, das von den Unertrunkenen spricht, zwar kein politisches Programm verfolgt, der Untergrund jedoch ein hochpolitischer ist.
Wie könnte er das nicht sein, richten sich die Text-Meditationen doch an "uns alle", an das Zoon politikon?
Um sich hineinzufinden in das neue Denken/Sein werden den Lesenden am Ende noch "Übungen" an die Hand gegeben. Zu jeder Lektion gibt es einen Anstoß, sich auf den Weg zu machen. Das kann eine Atemübung sein, denn vielleicht ist es nötig, das Atmen neu zu erlernen, denn das Atmen verbindet alle, ausnahmslos alle Wesen dieser Erde.
Es kann die Aufforderung, eine der Aussagen des Buches auf ein Protestschild oder ein T-Shirt zu drucken, oder von einem Meeressäuger zu lernen, "Nein" zu sagen.
Es gibt Übungen "Für dich allein" oder "Für deine Schule / dein Team", allesamt konkret und praktikabel.
Die Zitate verdeutlichen Inhalt, Stil, Intention, hier noch einmal eine Passage aus einer Betrachtung von Schwarzkinndelfinen, die als eine Art Verdeutlichung gelesen werden kann:
"Ja. Manchmal musst du deinen eigenen Whirlpool erzeugen, das Wasser umverteilen, eine dynamische Spirale in Gang setzen, die ganze Regierungen ablösen kann. Und ich respektiere das. Respekt und Liebe denen, die in Engen, in den Zwischenräumen der Veränderung gedeihen. Dank denen, die Bewegung zu ihrem Weg gemacht haben, Aufruhr zu ihrem Zuhause. Und denen, die ohne den geringsten Pfiff wissen, wann es gilt sich einzureihen, wann einen Ring zu bilden, wann das Meer aufzuwirbeln ..."
Ja, es wirbelt mächtig durcheinander, dieses Buch, das auf eine so unglaubliche Weise in die Tiefe taucht, um dort von den Nicht-Ertrunkenen zu lernen.
Alexis Pauline Gumbs: Unertrunken - Was ich als Schwarze Feministin von Meeressäugetieren lernte
Aus dem Englischen von Daniela Seel, unter Mitarbeit von Simoné Goldschmidt-Lechner und Mirjam Nuenning
Mit einem Vorwort von adrienne maree brown
Coverillustration von Diana Ejaita
aki-verlag, 2023, 192 Seiten