Joshua Groß - Prana Extrem
"Ich will versuchen, mich selbst (und auch alles andere, sofern es meine eingeschränkten Wahrnehmungs-fähigkeiten zulassen) neu zu erfahren, um die Verklumpungen, die permanent in mir wirken, auf der tiefstmöglichen Ebene mit außerirdischen Lichtwellen zu fluten, bis meine Charakterpanzer brechen." Das Prana, die Lebenskraft oder Lebensenergie, muss fließen.
Um "Verflüssigung", Aufbrechen von "Vorverfasstheit", um eine Neuausrichtung geht es in diesem buchstäblich zwischen Himmel und Tiefsee gespannten Roman.
Joshua, der Ich-Erzähler, verbringt zusammen mit seiner Freundin Lisa, der Stadtschreiberin von Wels, einige Monate in einer Ferienwohnung in dem fiktiven Ort Kurbruck in Tirol. Dorthin kamen die beiden per Zufall: Joshua lernte im Restaurant der Bergiselschanze den sechzehn Jahre jungen Skispringer Michael Stiening und kurz darauf dessen Schwester und Trainerin Johanna kennen.
Johanna lud sie in die leerstehende Wohnung ein. Ihre Eltern, der Vater Funktionär im österreichischen Skisprungverband, und die Mutter, ebenfalls im Bereich des Sports tätig, sind auf Reisen.
Zu den vier jungen Leuten gesellt sich im Verlauf des extrem heißen Sommers zunächst Suzet, Joshuas exzentrische Oma, später die fünfjährige Cousine Johannas, Tilde. Sie kann mit Kühlschränken sprechen, findet einen Mini-Meteorit in ihrem Schuh und ist auch sonst sehr munter.
Diverse Male schaut noch Karina, Johannas Freundin, vorbei. "Sie ist Astronautin auf der ISS", nun aber in einem irdischen Trainingslager.
Es entfaltet sich so etwas wie Alltag mit Ausflügen, lesen und schreiben, spielen, baden, kiffen. Und doch ist in jede Szene eine Suche, ein Versuch, ein Gedanke eingeschrieben, der grundsätzliche Fragen nach dem Zustand der Persönlichkeit und der Welt stellt.
Da ist Michael, der die Schwerkraft mit seinen Sprüngen überwindet und mit seiner Weigerung, sich dem Vater unterzuordnen, die Befreiung auf einer anderen Ebene erkämpft. Ebenso Johanna, die sich konsequent gegen ein festgefügtes System stellt und verstanden hat, welche innere Haltung für eine "Transzendenzerfahrung" nötig ist.
Da ist Suzet, die sehr unter dem Tod ihres langjährigen Partners Bruno leidet, aber einen ganz eigenen Weg findet, mit der Trauer umzugehen.
Der Tod als energetisches Ereignis wird auch in der eingefüg-ten Geschichte der Lieblingsschriftstellerin Joshuas, Gertrude Rhoxus, thematisiert. Es existiert eine Film-Doku über sie, in der u.a. ihr Mann Ignar zu Wort kommt.
Dieser taucht in Tirol auf, Joshua lernt ihn kennen und denkt sich einen Deal aus, der seinesgleichen sucht.
Es geht um Suzet, einen riesigen gestohlenen Meteoriten und Minigolf dabei - die Bögen werden weit gespannt in diesem Roman - bis hinunter zu den Mantarochen...
Riesenlibellen, die die Sümpfe und Quellen rund um Kurbruck bevölkern, weisen überdeutlich auf den Klima-wandel hin, Lisa nennt es "Vernichtungszusammenhänge", die "wir geschaffen" haben. Nicht nur Individuen müssen sich neu orientieren, der Planet muss neu "aufgebaut" werden.
Softdrinks, Chupa Chups und Hautpflegeprodukte spielen in diesem Roman ihre Rolle wie Rap, Lichtkunstinstallationen, Thermalquellen, Minigolf, Federball, eine Geburtstagsparty und überflüssige Ratschläge der Väter (nein, sie kommen nicht gut weg, die Repräsentanten des Patriarchats) - und das alles neben, in und über den oben genannten `ernsten´ Themen, die Mischung könnte nicht erstaunlicher sein und doch fügt sich alles bestens ineinander.
Dafür sorgt der Stil, der offen und direkt, zart und nach-denklich, modern und gewitzt zugleich ist. Der Autor folgt seinem Gedankenstrom, der zwischen Banalem und Philosophie mäandert, der fähig ist, scheinbar Widersprüch-liches zusammenzudenken.
"Ein Video, das genau neunundfünfzig Sekunden dauert, entstanden in der entlegensten Diaspora deutscher Aufmerksamkeitsökonomie, als ich siebzehn Jahre alt war, wirkt in mir immer noch nach, völlig unabhängig davon, welche erwachsenen Emotionalentscheidungen ich sonst so treffe. Ich mag das. Ich glaube, dass sich alles auswirkt, und zwar unkategorisch, und dass Wirkkraft unabhängig ist von der Blasiertheit derer, die sich den Auswüchsen der Gegen-wart verweigern; alles kann existenzielle Grenzerfahrung auslösen, die Zukunft ist überall, nur nicht in der Unantast-barkeit. Es gibt Energie, entfesselte Energie, und es gibt Wachheit."
"Erst jetzt kann ich allmählich unterscheiden zwischen meiner Vorverfasstheit und mir selbst, wobei sich beides natürlich bedingt" - darum geht es in diesem grandiosen Roman: einen eigenen Weg zu finden, ohne die Umwelt auszublenden.
Dass es Joshua Groß versteht, einzelne Puzzleteile, die auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammenpassen, zu einer in sich schlüssigen und auch unterhaltsamen Geschichte zusammenzufügen, hat er bereits in seinem Roman "Faunenschnitt", erschienen 2016, bewiesen. Auch hier liegen Teile der Handlung in Österreich, eine Figur namens Bruno spielt mit, hier wie dort gibt es Schriftsteller, die mehrfach gelesen werden und die großen Einfluss auf das Denken des Autors haben, außerdem liebt es der Protagonist, Dinge dem Feuer zu übergeben. Als Performance.
Zwischen den beiden Romanen gibt es viele Verbindungs-linien, es lohnt sich, diesen nachzuspüren und in den sehr besonderen Sound der Geschichten des 1989 geborenen Autors einzutauchen.
Joshua Groß: Prana Extrem
Matthes & Seitz Berlin, 2022, 301 Seiten