Tatjana Gromaca - Die göttlichen Kindchen

Der erste Satz des Buches lautet:

"Es gibt verschiedene Arten von Messern, aber für das Abschlachten von Menschen im Krieg sind am besten etwas längere Exemplare geeignet, so wie die Jagdmesser zum Schlachten von Wild-schweinen."

 

Die 1971 in Kroatien geborene Schriftstellerin beleuchtet die Situation dieses Landes in den 1990er Jahren. Der Krieg ist vorbei, die Verwüstungen in den Menschen jedoch nicht ansatzweise verheilt. Sinnbildlich für die kranke Gesellschaft steht die Mutter der Ich-Erzählerin, die, als sie noch gesund war, häufig ausrief: "Ihr bringt mich ins Irrenhaus!"

Dorthin kam sie dann tatsächlich.

 

Sie leidet unter Hochs und Tiefs, beide bringen sie völlig aus dem Takt. Mal schläft sie dornröschengleich Wochen und Monate, mal ist sie so aufgedreht, dass sie vergisst, wie zivilisierte Menschen sich benehmen. Im Krankenhaus übernimmt sie eine Führungsrolle unter den Patientinnen, wie jeder Mensch möchte sie bestimmen, herrschen.

 

Das erste Kapitel erzählt überwiegend von der Mutter, im zweiten wendet sich die Autorin dem Zustand des Landes zu.

In den beiden folgenden Teilen stellt sie Fragen zu Wahrheit und Lüge oder Illusion, zu Scham, Schweigen oder Verdrängung, zur Kultur, Zivilisation und dem "Bodensatz" des Bösen, der in jedem Menschen wohnt, und den sie interessanterweise nicht als `Natur´ bezeichnet. 

Sie thematisiert die Verabreichung von Psychopharmaka, um das Volk zu sedieren, Hauptsache, es werden keine Fragen gestellt. Sie spricht über die wundersame Verwandlung von Kriegstreibern in scheinbare Friedensengel, über den Irrsinn von Rasseideologien und die Schwierigkeiten, mit denen Freidenker konfrontiert werden. Sie erzählt von der lebenslangen Angst der Mutter vor ihrem autoritären Vater, der noch nach seinem Tod über sie herrscht. 

 

"Mutter war ein gutes Beispiel für eine völlig geknechtete und unfreie Person, gefesselt von den Ängsten ihrer Vorfahren, insbesondere ihrer Eltern. Von deren übernatürlicher, autoritärer Herrschaft über ihr Leben konnte sie sich auch nach deren Tod nicht befreien, was beweist, dass es nicht im Geringsten zählt, ob der Mensch, der jemands Denken und Handeln beherrscht hat, wirklich lebt oder nicht, ihm nahe ist oder nicht, mit ihm in Kontakt steht oder nicht."

 

Liest man die Mutter als Sinnbild für die Gesellschaft wird deutlich, wie es um die Freiheit oder auch die Fähigkeit der Menschen zur Freiheit bestellt ist. 

 

"Durch systematische Einschüchterung, Verbote, Angst und Bestrafung wurden Menschen als Kinder getötet, um zu dem zu werden, was sie waren, und sie fristeten halbverdorrte Leben und trösteten sich, dass alle anderen genauso lebten und dass es nichts Besseres geben konnte."

 

Der Text ist in viele kurze Abschnitte gegliedert, die beiden Zitate sind solche Passagen. Dies verleiht den Worten und Gedanken Gewicht, sorgt für ein ständiges Innehalten beim Lesen. Und auch wenn Tatjana Gromaca betont, "alles in diesem Buch ist völlig getrennt und verschieden von der Wirklichkeit, die hier nur teilweise und gelegentlich nachgeahmt wird", schafft sie ein überdeutliches Bild eben dieser Wirklichkeit.

Sie schreibt, das Buch sei ein "literarisches Spiel", das ist es. Sie spielt mit Wiederholungen, Belichtungen, Überzeich-nungen, ihre Überschriften sind scharf geworfene Bälle. Sie lauten zum Beispiel:

Offizieller Bericht aus dem Krankenhaus (Gott ist immer bei denen, die es schwer haben und leiden), Fachliches Gutachten (eine kombinierte Technik von Tiefenanalyse der Knochen und Krankenhausunterlagen), Lügen und Stehlen versus Freiheit und Wahrheit 10:0, Was ist Wirklichkeit und was nicht (ein Verweis auf die Märchen der Gebrüder Grimm sowie etliche Arten von Verdächtigungen und Anpassungen).

 

Das mit diversen Preisen ausgezeichnete Buch fordert die LeserInnen. Es entspinnt sich keine Geschichte, es gibt keine positiven Figuren. Dafür gibt es jede Menge Denkanstöße, eine eigenwillige Sprache und eine untergründige Ironie.

Es zeichnet zwar das Bild eines konkreten Landes zu einer bestimmten Zeit, aber nichts in diesem "literarischen Spiel" ist räumlich oder zeitlich begrenzt.

Dafür ist Tatjana Gromaca eine viel zu gute Spielerin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tatjana Gromaca: Die göttlichen Kindchen

Aus dem Kroatischen von Will Firth

Stroux-Edition, 2022, 132 Seiten

(Originalausgabe 2012)