Dana Grigorcea -
Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit
Die 1979 in Bukarest geborene Autorin lebt nach Jahren in Deutschland und Österreich heute in Zürich.
In dieser Stadt arbeitete auch ihre Protagonistin, die Ich-Erzählerin Victoria. Diese ist aber nach Bukarest zurückgekehrt, sie ist Bankerin und in der alten Heimat unter anderem damit beschäftigt, westliche Standards einzuführen.
Doch über ihre Tätigkeit erfährt man so gut wie nichts, sie ist nicht Thema des Romans. Gleich in der Eingangsszene wird die Bank überfallen, Victoria steht dem Räuber Auge in Auge gegenüber, händigt ihm das Geld aus und wird daraufhin krank geschrieben. Nicht weil man ihr eine Schuld zuschiebt, sondern sie soll eine Therapie machen, um den Schock zu verarbeiten und sich zu erholen.
Im Roman taucht der Bankräuber immer wieder kurz auf.
Es wird berichtet, er habe noch eine andere Bank überfallen, einmal begegnet Victoria ihm sogar bei einem Fest. Aber im Grunde liefert der Überfall nur den Grund, um Victoria für einige Zeit von ihrer Arbeit zu befreien und ihr Zeit zu geben, sich durch die Stadt Bukarest und durch ihr Leben zu bewegen.
Sie tut dies in der wunderbar planlosen, assoziativen, erinnerungsträchtigen und liebevollen Art einer modernen Flaneurin. Ich weiß, die korrekte Bezeichnung des weiblichen Flaneurs ist Passante (die auch immer eine politisch-soziale Dimension hat), aber dieses Wort transportiert nicht die Konnotationen des Flaneurs.
Dieser lässt sich treiben, er wählt nicht aktiv seinen Weg,
er passt sich an, folgt der Menge, ohne ein Teil von ihr zu werden, er schaut und er zeigt sich. So der klassische Flaneur, der nicht inne hält.
Grigorceas Flaneurin Victoria unterscheidet sich insofern, als sie sich zwar treiben lässt, das Beobachtete sie aber nicht zu Betrachtungen und Bemerkungen allgemeiner Art führt, sondern ganz konkrete Erinnerungen in ihr weckt.
Sie fährt mit ihrem Freund Flavian im offenen Wagen durch die Stadt, zu einer Hochzeit in einem Palast. Dort trifft sie illustre und auch ganz normale Menschen - die Begegnungen führen schnell zu ihrer Großmutter Mémé, einer Frau, die Gott und die Welt kannte und zu jedem eine Geschichte zu erzählen hatte. Diese erzählt Victoria nun Flavian, sie sind eine Verbindung zwischen diesen beiden Liebenden, sie füllen den Raum zwischen ihnen aus.
Victoria fährt auch mit dem Fahrrad durch die Stadt, dieses hat ihr der Nachbar aus Kindertagen, Codrin, ausgeliehen.
Dieser wurde von den Großeltern aufgezogen, weil Codrins Mutter aus Eifersucht den Vater ermordet hatte und dann ins Gefängnis kam. Er hatte ein Verhältnis mit der schönen Apothekerin Aristita, die wiederum mit Kapitän Botew verheiratet war.
Victorias ehemaliger Freund Dinu (vor acht Jahren haben sie sich getrennt) dreht zuerst die Stunts in einem Film über Botew, dann übernimmt er die Hauptrolle in diesem Film.
Dies erzählt er ihr bei einer zufälligen Begegnung im Café.
Und übrigens ist die Therapeutin, die Victoria aufsucht, Madame Miclescu, Dinus Mutter.
Dinu ist der Enkel des Oberst Miclescu, der sich 1947 wegen einer Romanze das Leben nahm - dass in diesem Jahr die Kommunisten das Ruder übernahmen, war auch ein Grund.
Dinu wird sofort von Mami Cordelia, eine der "beiden Damen" (Mutter und Großmutter) Flavians, erkannt.
So ziehen die Begegnungen und Erinnerungen ihre Kreise.
Jedes Kapitel wartet mit einer neuen kleinen Episode auf, sie sind wie Schatzkästchen, die geöffnet werden. Kaum ist der Deckel ein Stückchen angehoben, sprudeln die Worte daraus hervor. Durch die Personen, es sind im Grunde nur vier - Victoria, Flavian, Dinu und Codrin - und die sie umgebenden Mütter, Tanten, Nachbarn oder Dienstmädchen, sind die einzelnen Teile miteinander verbunden.
Ereignisse der Zeitgeschichte werden eher gestreift als ausdiskutiert. So soll Victoria beispielsweise einen alten Weinberg zurückbekommen, der vor langer Zeit enteignet worden war. Es ist zwar nicht genau der alte, den hat ein Verwandter des Bürgermeisters der Nachbarortschaft bekommen, aber der bald ihrige entspricht dem in Neigung, Sonneneinstrahlung, Rebsorte und so weiter - man weiß, was Grigorcea damit sagen will.
Die Wirklichkeit hat ihren Platz in diesem märchenhaften Roman, der auch satirische Züge hat. Es gibt traurige Stellen, es gibt auch den Zigeunerjungen, der bettelt (Stunden zuvor hat sie ihn aber noch in einer Schuluniform gesehen) -
dieser Roman ist ein Kaleidoskop der Welt.
Die kleine Form, die die Autorin wählt, lässt ihr die Freiheit, assoziativ zu erzählen, hier und da inne zu halten und einen Blick zu werfen, so wie der Flaneur mal da, mal dort einen Blick in ein Schaufenster oder auf die Gäste eines Cafés wirft.
Bei einem kleinen, spontanen Fest führt sie ihre Personen im letzten Kapitel alle zusammen, der einzige, der fehlt, ist:
der Bankräuber. Aber er hat ja seine Aufgabe gleich ganz am Anfang erfüllt.
Der Titel des Romans ist ein Zitat aus dem 2. Kapitel.
Da war der Banküberfall schon geschehen, Victoria hat frei und denkt an ihre Kindheit:
"Damals war es nachts so dunkel, dass ich bei längerem Schweigen nicht wusste, ob ich noch unter der Laube war oder woanders, die Augen auf hatte oder zu, ob ich mich bewegte oder das nur vorhatte. Damals genoss ich solche Verwirrungen, ein taumelndes Gefühl der Schwerelosigkeit, ja, wenn ich jetzt zurückdenke, entsinne ich mich eines primären Gefühls der Schuldlosigkeit."
Dieser "primären Schuldlosigkeit" stellt sie angesichts einer Besichtigung des Ceausescu-Palastes eine Begegnung mit einer jungen Frau gegenüber. "Sie ist ein sogenanntes Nachwendekind, das keine Schuld auf sich geladen hat und dieses arrogante Gefühl der Schuldlosigkeit vor sich herträgt."
Victorias Unschuld ist ebenfalls eine naturgegebene, genauso wie der Zufall einer späteren Geburt, aber sie ist von einer anderen Qualität. Sie zeichnet sich aus durch die Schwerelosigkeit der Wahrnehmung, die sich nicht gegen etwas oder jemanden richtet.
Diese Schwerelosigkeit charakterisiert Grigorceas Stil -
dieses Buch zu lesen ist ein Fest.
Dana Grigorcea: Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit
Dörlemann Verlag, 2015, 263 Seiten
Taschenbuch bei Ullstein, 2017, 272 Seiten