Nadine Gordimer - Ein Mann von der Straße
Diesen Roman der südafrikanischen Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer (1923-2014, Nobelpreis 1991) eine Liebesgeschichte zu nennen, wäre stark verkürzt. Denn obwohl die Liebe von Julie und Abdu im Mittelpunkt steht, kreist Gordimer um die Themen Herkunft, Familie, die Möglichkeiten des Verständnisses für andere, Prägung, Schicksal und Freiheit.
Der Roman spielt um die Jahrtausendwende, Julie und Abdu sind beide Ende Zwanzig, sie leben in Johannesburg in einem Südafrika, das die Apartheit vor einigen Jahren überwunden hat. Jedenfalls die offizielle und gesetzlich geforderte.
Julie ist aus bestem Haus, aufgewachsen in einem der Villenvororte, sie hat studiert und arbeitet nun in einer
PR-Agentur. Sie hat sich von ihrer Familie gelöst, der Vater, ein Banker mit Verbindungen in die höchsten Kreise des Staates, lebt mit seiner neuen Ehefrau Danielle in einem Haus, das nicht das der Kindheit Julies ist. Auch der Kontakt zur Mutter ist abgebrochen, sie lebt in Kalifornien mit einem Casinobetreiber. Julies Ersatzfamilie ist die "Tafelrunde":
ein Freundeskreis, der sich täglich im Café EL-EY trifft.
Diese Abkürzung für Los-Angeles ist Name und Programm, man gibt sich lässig, diskutiert ohne Unterlass, hat die Fesseln der Herkunft abgestreift, arbeitet in kreativen Berufen mit freier Zeiteinteilung, bindet sich nicht fest sondern hält sich alle Möglichkeiten, die das Leben bietet, offen. Und man lebt bescheiden in kleinen Appartements,
in umgewandelten Dienstbotenwohnungen, die freilich über allen Komfort verfügen und selbstverständlich von einer Schwarzen in Ordnung gehalten werden.
Julie ist auf dem Weg ins EL-EY, als ihr relativ altes Auto streikt. Es muss in die Werkstatt, dort lernt sie Abdu kennen. Mit ölverschmiertem Overall rollt er unter ihrem Auto hervor, sein Lächeln bezaubert sie. Sie nimmt ihn mit zur Tafelrunde, später nach Hause. Die beiden werden ein Paar.
Abdu ist illegal in Südafrika. Schon vor einem Jahr bekam er den Bescheid, das Land verlassen zu müssen. Er ist geblieben, schläft in einer kleinen Kammer hinter der Werkstatt, arbeitet dort für wenig Geld und versucht nicht aufzufallen.
In seiner Heimat hat er studiert, doch das interessiert hier niemanden.
Als Abdu den Ausweisungsbescheid erhält, bittet er Julie, sich an ihren Vater zu wenden. Er kennt gute Anwälte und Minister, er hat Geld. Julie weigert sich. Aber ihren Onkel Archie bittet sie um Hilfe. Doch es ist nichts zu machen,
Abdu muss gehen.
Und Julie geht mit.
Sie bricht alle Zelte ab und geht mit ihm in sein arabisches Heimatland, in dem Abdu wieder unter seinem richtigen Namen leben kann: Ibrahim ibn Musa.
Kurz vor der Abreise aus Johannesburg heiraten die beiden, es ist unmöglich für Abdu eine Frau mitzubringen, mit der er nicht verheiratet ist.
Vom ersten Moment der Ankunft an betreibt Ibrahim die Ausreise. Er wendet sich an alle möglichen Botschaften,
er träumt von Australien, Kanada, den USA. Er verbringt unendlich viel Zeit in Warteschlangen vor Behörden, mit der Anfertigung von Gesuchen und der Suche nach Männern,
die ihm weiterhelfen können. Daneben arbeitet er wieder bei seinem Onkel Jaqub in dessen Autowerkstatt.
Dieser Onkel ist der Clanchef, er verfügt über Einkommen,
er verteilt Geschenke - und er hat keinen Sohn.
Julie gewöhnt sich schnell an die bescheidenen Verhältnisse, schließt Freundschaft mit den Schwestern Ibrahims, mit deren Kindern. Und sie fängt an, Englisch zu unterrichten. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie das Gefühl, etwas Sinnvolles zu machen. Sie wird eine gute Lehrerin und sie lernt ihrerseits die Sprache des Landes.
Sie erwirbt sich den Respekt ihrer Schwiegermutter, indem sie mit Begeisterung kochen lernt und vor allem durch ihre Teilnahme am Ramadan.
Im ganzen Roman steht die unterschiedliche Herkunft Julies und Ibrahims wie eine Mauer zwischen den beiden.
Sie ist dünn und durchsichtig, biegsam und im besten Fall löchrig, aber letztlich undurchdringlich.
Julie liebt ihn wirklich, er traut sich nicht, sie zu lieben, das ist für ihn eine Schwäche oder eine Freiheit, die sich nur reiche Menschen leisten können. Während sie sich auf ihre neue Umgebung einlässt und in der Wüste so etwas wie Heimat findet, hat Ibrahim nur einen Gedanken: so schnell wie möglich wegzukommen.
Julie wurde mit der richtigen Hautfarbe in die richtige Familie am richtigen Ort geboren. Sie hat von Anfang an erlebt, dass sie wählen kann. Sie hat sich von ihrer Familie gelöst, freiwillig und mit der Möglichkeit zurückzukehren. Das Wissen um ein Treuhandkonto, das für sie angelegt worden ist, gibt ihr eine Ruhe und Sicherheit, die sie tragen.
Ibrahim steht als Araber noch unterhalb den Schwarzen,
als Illegaler hat er vollends keinen Anspruch auf ein eigenes Leben. Am falschen Ort geboren, als Rückhalt nichts anders als eine Familie, deren Erwartungen er nicht erfüllt, ist sein Blick aufs Leben ein komplett anderer als der Julies.
Obwohl Onkel Jaqub Ibrahim seine Werkstatt überlassen möchte und damit seine wirtschaftliche Lage gesichert wäre, ist dies für ihn keine Option. Er möchte in die USA.
"Sie war zu Hause geblieben und hatte sich - er sah es - Beschäftigungen gesucht, in der Zwischenzeit, für die er nicht verantwortlich war. Er hatte alles nur Mögliche getan und tat es noch, um von hier fortzukommen, und jedes Mal, wenn jemand oder etwas ihn an das Angebot seines Onkels erinnerte, diese Falle, die ihm von der Familie gestellt worden war, von seiner geliebten Mutter, dann raste sein Blut vor Schuldgefühlen und Zorn, eine Qual, die ihm eine Erektion gab, gegen die, begleitet von einer Mischung aus Scham und Verlangen, nur eines half: heftige körperliche Liebe, die Julie für etwas anders hielt, so wenig kannte sie,
in ihrer Art Leben, die Regungen des Überlebenskampfes, den man hier führen musste."
In dieser kleinen Passage ist viel von dem zusammengefasst, was der Roman umkreist: wie weit reichen die Möglichkeiten des Verständnisses zwischen Menschen, die von zwei verschiedenen Planeten kommen? Nicht einmal in intimsten Situationen und obwohl die beiden sich lieben, weiß der eine, was den anderen bewegt.
Ibrahim hat immer damit gerechnet, dass Julie zurückgeht in ihr altes Leben. Dass der Ausflug in ein muslimisches, rückständiges Land ein Abenteuer ist, das sich moderne Menschen dann und wann gönnen. Auch der angedeutete Kinderwunsch Julies fällt für ihn in diese Kategorie: sie sucht ein weiteres Abenteuer.
Als Ibrahim die Einreisegenehmigung für die Vereinigten Staaten bekommt, zwei Visa um genau zu sein, für sich und für seine Ehefrau, fällt Julie eine unerwartete Entscheidung.
Er glaubt, nicht richtig gehört zu haben.
"Wie ich, wie ich will sie nicht dahin zurück, wo sie hingehört. Wo sie nach Ansicht der meisten Leute hingehört. Sie sucht sich etwas anderes. Ich bleibe hier. Hier!"
Die offizielle Sprachregelung ist, dass Ibrahim vorausfährt und seine Frau nachholt, später, wenn er Fuß gefasst hat.
Das erlaubt ihm, nicht das Gesicht zu verlieren vor Vater, Onkel, Brüdern.
Julie wird als seine Ehefrau bei seiner Familie blieben, so wie Chadija, die andere Schwiegertochter, deren Mann seit Jahren auf den Ölfeldern arbeitet und von dem man nicht weiß, ob er noch lebt, oder ob er vielleicht an einem anderen Ort eine neue Familie gegründet hat. Chadija ist nicht freiwillig da, am Rand der Wüste, sie möchte zurück in die Hauptstadt. Sie hat nicht die Möglichkeit dazu, Julie schon.
Woher kommt ihre Idee zu bleiben? Von der Wüste.
Sie ist ewig und unwandelbar.
"Aber das kann sie ihm nicht sagen. Er meidet die Wüste. Für ihn ist sie die Verweigerung all dessen, wonach er sich sehnt. Und falls er sich an die Begeisterung einiger Mitglieder der Tafelrunde erinnert, könnte sein nächster Vorwurf sein, dass ihre Entscheidung den romantisch verklärten Vorstellungen des im Komfort lebenden westlichen Mittelstandes entspringt. Wie die, sich einen ölverschmierten Mechaniker anzulachen."
Vielleicht unterschätzt Ibrahim Julie?
Nadine Gordimers Roman ist unglaublich subtil, sehr fein gearbeitet, sehr vorsichtig, nachdenklich und vielschichtig. Sie beschreibt die Menschen in ihren Worten und Taten,
aber auch mit all dem, was sich im Lauf eines Lebens in einem Menschen ansammelt, und von dem er manches weiß, manches nicht.
Sie hat einen Roman geschrieben, der auf einer sehr persönlichen Ebene eine Liebesgeschichte erzählt, die jedoch eingebettet ist in eine gesellschaftliche und kulturelle Situation, die ihm eine ganz andere Dimension gibt.
Sie erzählt die Geschehnisse von ungefähr zwei Jahren, in diese legt sie die Geschichte von Generationen.
Nadine Gordimer: Ein Mann von der Straße
Übersetzt von Heidi Zerning
Berlin Verlag Taschenbuch, 2004, 272 Seiten
(Orginalausgabe 2001)