Ralph Roger Glöckler - Kinderdämmerung

Gedichte aus fünfzig Jahren

Ein Band, der Gedichte aus fünfzig Jahren Schaffenszeit versammelt, weckt große Erwartungen. Er zeichnet die Entwicklung des Dichters nach, lässt erleben, wie sein Blick sich verändert, seine Stimme zu sich selbst findet. Die hier zusammengestellten Gedichte stammen aus den Bänden "ich bin" von 1968, "technische innerei" aus dem Jahr 1973, sowie dem 2001 erschienenen Band "Das Gesicht ablegen". Ergänzend sind undatierte, unveröffentlichte und späte Texte beigefügt, sowie die Originalveröffentlichung einer Partitur von John Sheridan, der das Gedicht "kleines geräusch" von Ralph Roger Glöckler vertonte. Außerdem zieren von den Gedichten inspirierte Radierungen Géza Spiegels das Buch - die Erwartungen werden mehr als erfüllt.

 

Den Auftakt bilden Gedichte aus dem Band "ich bin". Er stimmt ein auf ein Werk, in dem ein Dichter und Erzähler seine Haltung zur Welt sucht, seine Ausdrucksmöglichkeiten auslotet, das Verhältnis von "ich" und "selbst", von "ich" und "du" bestimmen möchte, das Verhältnis von Sprechen und Schweigen beleuchtet. Und nicht zuletzt, vor allem in der "Kantate des Nichts", entstanden zwischen 2012 und 2020, sowie in den "Fragmente(n), Biblische Gesänge" aus dem Jahr 2009, die Fragen nach Gott und Religiosität stellt.

 

Doch zunächst ein Text aus "ich bin" (1968):

 

inkarnation

 

ich bin der vogelflug

das trachten früher sehnsucht

verlang´ den mistral über mich

und nachtlicht als gewand

 

ich wandere durch felsige gestade

wo schlange ich, skorpion

lass das geröll erglühen

gewittrige   wetter   leuchten

 

 

In der ersten Zeile erscheint ein Wort-Motiv, das sich durch das gesamte Werk zieht: der Vogelflug. "vögel fliegen weit", "als wenn / aus deinen händen bäume sprössen / und zug-vögel flögen / in deinem Aug", "nur im becher der schwermut / lebst feuriger vogel / du im blut der traube" ist zu lesen.

Eines der späteren Gedichte, erschienen in "aus dem nachlass des violetten träumers", lautet:

 

vögel

 

lies doch die schrift dort oben

flüchtige vögel über dem haus

sind es nicht linien der hand

hoch gegen die ferne geschrieben

 

Während sich das erste Gedicht zwischen Himmel und Erde bewegt, im glühenden Geröll die Energie des Feuers anruft und die energetische Entladung des Wetterleuchtens besingt, erzählt das Gedicht "vögel" ebenfalls vom Himmel und von Vögeln, doch in einem ganz anderen, ruhigen Ton. Die von den Vögeln geflogene Route könnte auch die Linienzeichnung einer Hand sein, das Gedicht ein in die Ferne, ins Blau der Weite geschriebenes Bild. Es spricht nicht vom "ich", es ist an ein "du" gerichtet mit der Aufforderung "lies doch".

 

Hier zeigt sich der Weg von der Findung oder Bestimmung des "ich" zum anderen hin. Das "ich" braucht ein "du", es braucht die Welt, um sich darin zu reflektieren.

 

So spielt die Natur eine zentrale Rolle in Glöcklers Gedichten, die `außen´ und die `innen´. Mit `innen´ meine ich die auffällige Verwendung von Körperteilen und Organen, der Körper wird nicht außen vor gelassen. Er konkretisiert das in-der-Welt-sein, ist Wahrnehmung, Ort der Ablage-rungen von Erfahrungen, Sehnsüchten und  Erwartungen. Ihm steht der "ortlose punkt" gegenüber, der in Fernando Pessoa, dem großen portugiesischen Schriftsteller, gewidmeten, Gedichten "Das Gesicht ablegen", auftaucht.

In diesem Zyklus verbinden sich Stadt und Land, Geschichte(n) und Mythen, vor allem aber lese ich darin die Reise des Dichters in die Welt der Sprache:

 

alle reisen enden in deinen oden

oder in meinen gesängen

den absenderlosen briefen

 

Die Gedichte legen Zeugnis ab von Reisen ins Ich, in die Welt, in die Worte. Sie sind klar, auf das Wesentliche reduziert, es gibt keine Abschweifungen. Den einzelnen Worten wird Raum zum Atmen gelassen. Ein jedes Gedicht ist ein für sich stehendes ästhetisches Werk und zugleich verbinden sie sich zu einer Gesamtkomposition. Je öfter man sie liest, desto stärker klingen sie. 

 

 

liturgia

 

wozu das herz der dinge zerfragen

antworten fordern führt zu keinem ergebnis

dass dieser baum ist

dass ich ihn taste atme seine wurzeln fühle

   in meinen wurzeln und dies über den tag hinaus

   seine zweige in meinen zweigen bewege

dies alles ist antwort genug

 

dies alles ist ausreichend begründung

so steh ich hoch in den mittag

trage auf meinen schultern stürmische böen

   die kommen von meer und gezeiten

   und mit sich bringen samen von palmen

   und gräsern und blüten und immer wieder

   morgen und abend

 

und langsam     ganz von alleine

ist alles fraglos

ohne schatten

 

Natürlich ist es nicht möglich, ein Gedicht auszuwählen, das den Geist eines Werkes von Jahrzehnten fasst. 

"liturgia" gibt jedoch meines Erachtens eine Vorstellung von Themenspektrum und Tonfall, von der Formgebung, dem vorsichtigen Tasten und der Haltung des Dichters, der auch ein Erzähler ist.

 

Er erzählt von Schuld, Einsamkeit, Erschütterungen, stellt die Großstadt/Zivilisation mit ihren (Konsum)Wünschen neben die Jahreszeiten, Brücken, Verbindungen, Vereini-gungen, Trennungen. Die Verwandlungen sind es, die Dämmerung, die Räume zwischen Tag und Nacht,  die den Dichter stets aufs Neue beflügeln.

 

Ein reiches Werk ist hier zu entdecken, das Lesen gleicht einer Meditation, einer Umarmung der Welt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ralph Roger Glöckler: Kinderdämmerung - Gedichte aus fünfzig Jahren

Mit Grafiken von Géza Spiegel und einer Partitur von

John Sheridan

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Sven Limbeck

Elfenbein Verlag, 2023, 160 Seiten