Laurent Gaudé - Die Sonne der Scorta

 

 

Die über 150 Jahre reichende Familiengeschichte ist zugleich eine Geschichte der Armut, des Betrugs und der Macht der Sonne.

Sie spielt in dem Dorf Montepuccio auf dem Gargano - einen Ort dieses Namens gibt es nicht. Es könnte jeder sein, da er all das in sich vereint, was für ein kleines, am Meer gelegenes, bettelarmes Dorf typisch ist.

 

Im Mittelpunkt steht die Familie Scorta, die ihren Anfang in Luciano Mascalzone sieht. Er ist ein Gauner, der nach fünfzehn Jahren im Gefängnis nach Montepuccio zurückkommt. Auf seinem Esel reitet er nach Italowestern-Art in sengender Mittagshitze auf dem Dorfplatz ein.

Er ist gekommen, um sich die Frau zu nehmen, von der er die ganze Zeit im Gefängnis geträumt hat. Sie öffnet ihm die Tür, lässt ihn ein - und ist nicht die, die er erwartet hatte. Das erfährt er aber erst in der Minute seines Todes, ein paar Stunden nach seiner stolzen Rückkehr, als das Dorf ihn steinigt.

 

Ein Paukenschlag zum Auftakt also. Ein Romananfang, der an Camus erinnert ("Es war zwei Uhr nachmittags, und die Erde war zum Brennen verurteilt") und an Garcia Marquez. 

 

Aus der Vereinigung mit Immacolata geht der Sohn Rocco hervor. Um ihn vor der Wut des Dorfes zu schützen, bringt der Pfarrer ihn in eine Pflegefamilie andernorts. Rocco nimmt beide Namen an, nennt sich Mascalzone Scorta und wächst zu einem Verbrecher heran. Er übertrifft seinen Vater bei weitem, er stiehlt, brennt nieder, vergewaltigt - und erwirbt sich einen ansehlichen Reichtum. 

 

Rocco heiratet "die Stumme", sie bekommen drei Kinder: Domenico, Guiseppe und Carmela.

Nach seiner Hochzeit lässt Rocco das Dorf in Ruhe, er dehnt seine "Aktivitäten" ins Hinterland aus.

Und die Dorfbewohner fangen an, ihm Respekt entgegenzubringen: "Tief in ihrem Innern fühlen sie keine Angst, sondern Neid und Respekt. Weil ich reich bin. Sie denken an nichts anderes, Geld, Geld. Und ich habe mehr davon als sie alle zusammen", sagt Rocco zu Don Giorgio.

 

Dieser Aspekt zieht sich durch den ganzen Roman: Feigheit, Opportunismus und Bigotterie sind die hauptsächlichen Eigenschaften der Dorfbewohner. Von Arbeit, Armut und Sonne gebeugt gehen sie durchs Leben wie ihre Lastesel, früh schon wird jede Hoffnung auf Verbesserung begraben.

 

Die drei Kinder sind von Anfang an schon isoliert: nur ein Kind, Raffaele, darf mit ihnen spielen. Er wird später durch einen riutuellen Begräbnisakt zu einem Bruder werden, eine Sache, die ihn mit Stolz erfüllt und der Erfüllung seines Herzenswunsches entgegensteht.

 

Nach Roccos Tod ist seine Familie plötzlich wieder völlig verarmt: er hat seinen gesamten Besitz der Kirche vermacht. Seine Kinder wandern nach Amerika aus, kehren aber bald wieder zurück. Carmela, die Jüngste, ist die pfiffigste: sie hat die Idee, einen Tabakladen zu eröffnen.

Sie hat beobachtet, dass das einzige, was alle Männer des Dorfes, egel welchen Standes, einander gemein ist, das Rauchen ist.

 

Der Zigarettenladen entwickelt sich, die drei Geschwister gründen eingene Familien, verdienen ihren Lebensunterhalt mit Fischfang und einer Bar, Carmela übernimmt den Laden und ernährt damit ihre Familie.

 

Ihr Sohn Elia wird ihn später fortführen, aber erst nachdem er ihn eigenhändig abgebrannt und wieder aufgebaut hat...

Jeder Scorta scheint wieder von vorn anfangen zu müssen.

 

Elias Bruder Donato ist Zigarettenschmuggler, später Fluchthelfer: er fährt Flüchtlinge mit seinem Boot von Albanien nach Italien. Doch an deren Geld ist er nicht interessiert, es sind die nächtlichen Fahrten übers Meer und eines Tages fährt er einfach nicht mehr an Land. Er übergibt sich dem Wasser.

Carmela hingegen wird von der Erde verschluckt: ein Erdbeben reißt die Erde auf, Carmela versinkt darin.

 

Sie hatte bei einer Familienfeier allen Mitgliedern den Schwur abgenommen, etwas von ihrer Lebenserfahrung, irgendeine Geschichte, an die Jüngeren weiterzugeben, denn sonst wäre sie mit dem Tod unwiderbringlich verloren. 

Sie selbst hat ihre Vergangenheit dem Pfarrer anvertraut (der sie an die Enkelin Anna weitergibt), sie zieht sich als eine parallel verlaufende Geschichte durch den Roman und füllt die Lücken, die die Handlung gelassen hat. 

 

Don Salvatore spricht am Ende eine Art Schlusswort, eine Zusammenfassung dessen, was die Familiengeschichte ausmacht:

"Die Oliven überdauern ewig. Eine einzige Olive lebt nicht lange, sie reift und verfault. Doch Oliven folgen aufeinander, eine nach der anderen, unendlich und immer wieder. Sie sind alle unterschiedlich, doch ihre lange Reihe besitzt kein Ende. Sie haben die gleiche Form, die gleiche Farbe, sie reifen unter der gleichen Sonne und schmecken alle gleich. Also ja, die Oliven überdauern ewig, wie die Menschen. Sie folgen dem gleichen unendlichen Lauf von Leben und Tod. Die lange Reihe der Menschen reißt nicht ab. Bald wird es an mir sein, zu verschwinden. Das Leben neigt sich dem Ende zu. Doch für andere als uns geht alles weiter."

 

In diesem archaischen Leben zählt die Familie mehr als der Einzelne und doch ist jeder Einzelne wichtig.

Es gibt in Gaudés Roman keinen Protagonisten, die ganze Familie ist die "Hauptperson".

Individuum und Gemeinschaft, Weggehen und Zurückkehren, außerdem die Relativität moralischer Grundsätze sind die Themen, um die Gaudé kreist.

Er hat einen sehr dichten Roman geschrieben, geschult an den großen italienischen Realisten - auch bei ihnen löst sich eine Geschichte nie ganz im Realismus auf.

 

 

 

 

 

 

 

 

Laurent Gaudé: Die Sonne der Scorta

Aus dem Französischen von Angela Wagner 

dtv-Taschenbücher, 2005, 253 Seiten

(Franz. Originalausgabe 2004)