Anne Garréta - Sphinx

Anne Garréta wurde 1962 in Paris geboren. Der vorliegende Roman ist ihr Debüt, das 1986 in Frankreich erschien.

Nun liegt er erstmals auf Deutsch vor - und bringt eine völlig neue Leseerfahrung.

Die Schriftstellerin gehört seit 2000 zum Autorenkreis "Oulipo", dem nur wenige, aber sehr namhafte Dichter angehören (Italo Calvino, Oskar Pastior, Raymond Queneau, um nur einige wenige zu nennen). Dieser Kreis hat sich sehr strenge formale Regeln und eine Vermeidung bekannter Formen auferlegt, die zu einer Erweiterung der Sprache und der Darstellungsform führen.

Ein Beispiel: Georges Perec schrieb einen Roman, in dem kein "e" vorkommt, auch die Übersetzung hält sich daran.

 

Garréta verzichtet in ihrem Roman darauf, das Geschlecht ihrer beiden Protagonisten zu nennen.

 

Ein namenloser Ich-Erzähler erzählt seine Liebesgeschichte mit A***, deren Anbahnung im ersten, ihre Erfüllung im zweiten und ihr trauriges Nachspiel im dritten Teil niedergeschrieben wird. Der Erzähler ist in diesem letzten Teil von Trauer und Einsamkeit geplagt in ein Amsterdamer Hotel gezogen. Dieses verlässt er erst, nachdem sein Bericht fertig ist, es ist eine Art Beichte und eine Befreiung von all den Erinnerungen, die bis dahin wild durch seinen Kopf sausten.

 

Zu Beginn der Geschichte ist er (der Erzähler), oder sie (die Erzählstimme), gerade zwanzig Jahre alt, weiß, und Student an der Theologischen Fakultät in Paris. 

Er/sie lässt sich durch die Welt treiben, vor allem durch das nächtliche Paris mit seinen unzähligen Clubs und Discos.

Im Eden begegnet er zum ersten Mal A***, er oder sie ist der Star einer Tanzrevue. Durch Zufall wird der Erzähler zum DJ in der beliebten Disco Apocryphe (apokryph bedeutet zweifelhaft, nicht zum Anerkannten gehörend und ist der perfekte Name für eine Welt, in der alles ins Wanken gerät), was das Ende des Studiums mit sich bringt und ein vollständiges Verlegen des Lebens in die Nacht.

 

Aus einer tiefen Freundschaft des Erzählers mit der zehn Jahre älteren Person, von der nur zu erfahren ist, dass sie aus New York kommt und schwarz ist, entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebe, die jedoch im Lauf der Zeit abkühlt und auch deutlich zeigt, dass die beiden Menschen von sehr unterschiedlichem Charakter sind und divergierende Vorlieben haben.

Doch trotz dieser Entfernung ist und bleibt A*** der Mensch, mit dem er/sie die wichtigsten und tiefsten Erfahrungen seines/ihres Lebens macht und teilt und damit die ganz große, einzigartige Liebe.

 

Die beiden reisen viel, nach München, nach New York zu A***s Mutter und Familie, später durch die großen Städte Italiens, sie leben für die Nächte, für sich und den anderen.

 

"Ich schwankte, als A*** zu mir trat, um mich zu küssen, und ich wusst nicht, was ich tun sollte, außer es geschehen zu lassen. Ich verlor jedes Empfinden für die zeitliche Abfolge des Geschehens und selbst die einfachsten Anhaltspunkte im Raum, so dass nun auch in meiner Erinnerung alles verschwimmt.  ... Ich könnte niemals genau wiedergeben, was geschah - weder schildern noch auch nur benennen, was ich machte oder mit mir gemacht wurde. An dieser Tabula rasa trägt der Alkohol keine Schuld; das Gefühl, ganz in etwas aufzugehen, lässt sich nicht in Worte hinüberretten. Völlig aufgelöst im Sex wusste ich keine Einzelheiten mehr festzuhalten. Und in der Verschmelzung schliefen wir ein."

 

Bei der Lektüre wir klar, dass es schwierig bis unmöglich ist, sich einen Menschen vorzustellen, ohne ihm ein Geschlecht zuzuordnen. Was impliziert, wie schwierig es ist, ohne Rollenzuteilung und Einordnung in bestimmte eingeübte Strukturen zu denken. Und genau das macht die Geschichte des Paares so spannend (abgesehen davon, dass es auch ein sehr schöner Roman wäre, wenn die beiden Protagonisten Mann und Frau oder Frau und Frau oder Mann und Mann wären). So gilt es ständig auf der Hut zu sein und sich zu zwingen, nicht zu überlegen, wer jetzt wer ist, sondern Stereotype abzulegen sich auf einen bzw. zwei Menschen als Menschen einzulassen.

 

Hochinteressant ist auch - und damit reiht sich Garrétas Roman nahtlos an das Buch "Ein Haus mit vielen Zimmern - Schriftstellerinnen erzählen vom Schreiben" an, wie wichtig der Körper für eine Autorin ist. Er ist nicht nur ein Fortbewegungsmittel oder Träger der Seele, er ist der Schauplatz des Lebens. 

 

Die folgenden Zitate stammen von den Seiten 113 und 114 des Buches:

"Ich war bei A***s Körper in der Garderobe geblieben..."

"Drei Stunden lang gab ich mich dem Anblick des geliebten Köpers hin..."

"...warf der Spiegel über dem Schminktisch das Bild des Körpers zurück..."

"Von meinem Platz bot sich mir der verstörende Eindruck eines perspektivisch verkürzten Körpers..."

"Es war, als ragte der ausgestreckte Köper im Spiegel in meinen Blick hinein."

"... in der Spiegelung verschmolz A***s Köper fahl mit meinem Gesicht an seiner Seite."

 

Dem Anliegen der Schriftstellerinnen, den (weiblichen) Körper zurückzuerobern und ihn davon zu befreien, Projektionsfläche zu sein, entspricht der Roman Garrétas vollständig. Und sie geht weit über die formalen Beschränkungen der Oulipo-Gruppe hinaus, indem sie die Wurzeln der menschlichen Existenz auslotet und fragt:

Wie sehen wir uns selbst? Und wie die anderen?

 

Diese Frage stellt A*** in der letzten Begegnung:

"Wie siehst du mich eigentlich?"

"Ich sehe dich in einem Spiegel. ....

Es war keine Antwort: eher ein Rätsel, ein düsterer Urteilsspruch, ein Stück aus einem Aphorismus mit dem Beiklang einer apokalyptischen Prophezeiung."

 

Der Titel des Buches, "Sphinx", stammt aus einem Song, der "für mich zu einem Sinnbild geworden (ist), zur verrätselten Prophezeiung all dessen, was je zwischen A*** und mir geschah."

Die letzten beiden Zeilen des Songs lauten:

"Frau oder Priester

der Blickwinkel entscheidet"

 

 

Vielleicht ist mittlerweile der Eindruck entstanden, es handle sich um einen komplizierten, theoretischen Roman, geschrieben für Literaturwissenschaftler. Dem ist absolut nicht so. Der Roman liest sich sehr flüssig und ist sehr bilderreich, Garréta beherrscht die Kunst des Beschreibens und Erzählens, die Lektüre ist ein großer Genuss.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anne Garréta: Sphinx

Übersetzt von Alexandra Baisch

edition fünf, 2016, 184 Seiten

(Originalausgabe 1986)