Frída Ísberg - Lederjackenwetter

Gedichte, die unter die Haut gehen.

Gedichte, in denen eine "1. pers." nach einer "2. pers" und einem "Wir" - so die Titel der drei Teile des Buches - tastet. Ein lyrisches Ich, das die Welt und den eigenen Platz in ihr erkundet. Das in die Kindheit und Jugend taucht, nach dem Vater forscht, feststellt, dass es "ein sehr gutes scheidungskind" ist. Eines, das früh vom Vater eine Lederjacke geschenkt bekam. Sie ist wie eine zweite Haut, dicker und schützender als die eigene dünne und empfindsame. 

 

Sie hat ihre "vor- und nachteile", diese Jacke, man kann sagen

 

"dass eine zusätzliche haut ein schutz ist

der zu dick werden könnte

zu schwer"

 

Es bedarf der Balance und Hinterfragung, einen steten Abgleich zwischen Distanz und Nähe, dem Gegenwiegen von "selbstvertrauen und verzweiflung".

 

Ein weiteres Wort oder Symbol, das in vielen Gedichten auftaucht, ist der Spiegel.

Er zeigt nicht nur das Gesicht dessen, der hineinschaut, es gibt in der isländischen Denkweise auch Spiegel, in denen man Vergangenheit und Zukunft sehen kann.

In dieser Idee der "schattensicht" verwendet Frída Ísberg, die 1992 auf Island geborene und dort noch immer lebende Autorin, diesen Begriff. 

Sie erweitert ihn aber auch zu einem sozialkritischen Bild.

So spiegelt sich in der Sonnenbrille eines Obdachlosen ein "neunzehn stockwerke" hohes Gebäude, es erscheint ein "spiegelturm". Da der Mann auf einer Bank sitzt, liegt die Assoziation, dass es sich um ein Bankenhochhaus handelt, nahe.

 

Auch dem Papier kommt eine Spiegelwirkung zu. Es nimmt Worte auf, saugt Unglück auf. Oder bringt es ans Tageslicht.

Schultern, Hände, Kinn, Haare oder ein Mund - Körperteile transportieren Konnotationen abseits der üblichen

Zuschreibungen.

 

Frída Ísberg findet einen ganz eigenen Ton ohne Manierismen, ihre Kunst entfaltet sich in der Verbindung einer schlichten Sprache mit  eigenwilligen Bildern.

Ein Beispiel:

 

ICH UND DU

 

du berührst meine augen

und findest keinen balken

 

ich berühre deine augen und finde keine splitter

 

ich taste nach der brille

und finde einen teelichthalter

 

blinzle durch den boden

leerer limonadenflaschen

 

etwas verdeckt die sicht

es ist als durchleuchte man ein angebrütetes ei

 

Die Welt lesen lernen, die Suche nach Anerkennung durch andere, das Nachdenken, ob der Mensch im Inneren einen Kern hat oder ein alles schluckendes schwarzes Loch, das Reflektieren über das Wagnis des in Kontakt Tretens, das Verwobensein in die Welt, ob man will oder nicht, die alten Fragen der Dichtkunst nach Sein oder Schein, nach dem Dichter, der sich hinter einem "sprecher" verbirgt - die Gedichte Frída Ísbergs sind vielfältige Variationen des Themas: wie dick muss die Haut werden, wie dünn muss sie bleiben, dass man die Welt aushalten kann, nicht aber seine Empfindsamkeit verliert?

 

Hier noch eines meiner Lieblingsgedichte:

 

JAKOBSMUSCHEL

 

ich spürte es am psst

dass empfindsamkeit eine schwäche ist

 

etwas das man versteckt

 

so versteckte ich sie

nicht wie süßigkeiten

die man später essen will

 

sondern wie eine blassbleiche

aderblaue jakobsmuschel

die nicht zerbrechen darf

 

 

Alle Gedichte sind in Kleinbuchstaben geschrieben, es gibt fast keine Interpunktion. Sie fließen, häufig ändern sie die Flussrichtung, kommen am Ende zum Anfang zurück oder verzweigen sich in zwei Arme. 

 

Schön, dass diese junge Dichterin nun auf Deutsch gelesen werden kann. In guter Tradition hat der Elif Verlag alle Gedichte auch im isländischen Original abgedruckt, immer wieder ist das ein überraschend schönes Erlebnis, auch wenn man diese Sprache nicht beherrscht.

Übertragen wurden sie vom bewährten Übersetzer-Duo Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, beide profunde Kenner der isländischen Literatur, beide Schriftsteller und Künstler.

 

Schön, diese frische Stimme!

 

 

 

 

 

 

 

 

Frída Ísberg: Lederjackenwetter

Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer

Elif Verlag, 2021, 92 Seiten

(Originalausgabe 2019)