Heinrich von Kleist (Text) & Hanna Jung (Illustrationen)
Über das Marionettentheater
Dieses Gespräch zwischen dem
Ich-Erzähler und dem namhaften Tänzer Herrn C. über die Anmut von Marionetten und die Grazie
des Menschen, geführt im Jahr 1801, ist ein Klassiker der Literatur.
Die Illustratorin Hanna Jung hat dem Essay Kleists mit ihren unver-gleichlich schönen Zeichnungen frisches Leben eingehaucht, man möchte ihr ein "Dankeschön" dafür zurufen!
Das Gespräch beginnt mit der Verwunderung des Erzählers darüber, dass er den Tänzer schon mehrfach im Mario-nettentheater gesehen habe, wo dieses doch eine "für den Haufen erfundene Spielart einer schönen Kunst" sei.
Das Eingangsbild zeigt eine Gruppe von Tieren, die, aufs Feinste gekleidet, dem Eingang des Theaters zustrebt.
Kniehosen, Seidenwesten und Rüschen verdecken Fell und Federkleid, man hat sich herausgeputzt.
Der Tänzer erklärt seinem Gesprächspartner, wie die Bewegungen der Puppen ausgeführt werden: der Spieler muss den Schwerpunkt der Puppe "regieren", die restlichen Glieder folgen dann von selbst.
Schon ist ein hirschkäferartiges Insekt zu sehen, das an seinen Fäden hängt, auf der folgenden Seite gesellen sich vier weitere Insekten dazu, die zwischen verschiedenen Bereichen der Natur changieren. Eine sehr langbeinige Insektendame hat Flügel, die an Blätter erinnern, der neben ihr schwebende Herr mit Turban verfügt über extrem lange Arme, die aus Ahornflügeln zu bestehen scheinen - sie alle schweben in eigentümlicher Schönheit an Fäden und präsentieren sich dabei in größtmöglicher Würde.
Doch das Gespräch geht weiter: die vom Schwerpunkt ausgehenden Bewegungen beschreiben verschiedene Linien, sie sind der Weg der Seele des Tänzers.
Im folgenden wird ausgeführt, wie überlegen die Puppen den menschlichen Tänzern sind, dies liegt daran, dass sie über keinerlei Bewusstsein verfügen.
Dies ist der Kern des Essays: das Bewusstsein von Schönheit, wie es dem (erwachsenen) Menschen eigen ist, verdirbt die Grazie, die beispielsweise ein Kind noch hat, oder Tiere.
Deshalb wählt Hanna Jung auch über die Seiten fliegende Tiere, die die vollendete Anmut illustrieren.
Oder ein tanzendes Paar, Jaguarherr und Antilopendame,
die bis ins kleinste Körperteil vollendete Bewegungen zeigen.
Die Sprache kommt auf den Dornauszieher, eine in Paris ausgestellte Statue, in der Klassik sehr berühmt und als Abguss in vielen Bürgerhäusern stehend.
Sie zeigt einen sitzenden Jungen, der das linke Bein über das rechte geschlagen hat und sich nach vorne beugt, um einen Dorn aus seinem Fuß zu ziehen.
Diese Statue gilt als Inbegriff von Anmut, da der Junge sein Tun völlig ohne Bewusstsein seiner Schönheit ausübt.
Dem Erzähler fällt nun eine Begebenheit ein, bei der er einen jungen Mann von circa sechzehn Jahren dabei beobachtete, wie dieser in derselben Haltung einen Stachel aus seinem Fuß entfernen wollte. Er tat dies mit unendlicher Grazie - bis ihm klar wurde, was er da tut. Bei jeder Wiederholung wurde die Bewegung unschöner, schließlich regelrecht komisch - der junge Mann hat in diesem Augenblick seine Unschuld und damit seine natürliche Grazie verloren.
Festgehalten ist dieser Moment in einer Zeichnung, auf der ein kräftiger junger Mann auf einem Schemel sitzt, doch wie einen Umhang trägt er das Kleid eines Eichelhähers, der Kopf ist der dieses Vogels. Er schaut in den Spiegel, offensichtlich befindet er sich gerade zwischen Mensch und Tier, zwischen Bewusstsein und Unschuld. Eine Feder liegt bereits am Boden - er ist dabei, sein Federkleid zu verlieren.
Als ein weiterer Beweis für die überlegene Grazie der Tiere wird eine Geschichte aus Russland zum Besten gegeben:
der Erzähler besiegt dort drei Brüder im Fechtkampf, doch sie lassen den Sieger anschließend gegen einen Bären fechten, der, obwohl er angebunden ist, den Angreifer lächelnd in seine Schranken weist.
Drei Geschichten also innerhalb der Erzählung, die eines erklären: "Wir sehen, daß in dem Maaße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt."
Nun jedoch die Schlussfolgerung, die Kleists kleine Erzählung erst zum Klassiker gemacht hat: es findet sich, "wenn die Erkenntniß gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, das entweder gar keines, oder ein unendliches Bewußtsein hat, das heißt in dem Gliedermann, oder in dem Gott.
Mithin ... müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntniß essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, ... das ist das letzte Capitel von der Geschichte der Welt."
Der Sündenfall vertrieb die Menschen aus dem Paradies,
das Erlangen von unendlichem Bewusstsein kann sie wieder in den Stand der Unschuld versetzen und durch die Hintertür ins Paradies zurückbringen.
Da immer wieder vom Schwerpunkt die Rede ist, lässt sich auch der Schluss ziehen, dass jedes aus seiner Balance oder Mitte geratene Wesen nicht mehr ganz es selbst ist.
Von "Eitelkeit" und "Gewalt", ist die Rede, sie sind definitiv Aspekte, die dem Menschen seine Grazie rauben.
Der Mensch als eine Art Zwischenwesen mit einer großen Aufgabe - wunderbar dargestellt durch die halb-Mensch-halb-Tierwesen, die sich durch die Erzählung bewegen.
Auf der letzten Doppelseite laufen, hüpfen, fliegen die auf den Eingangsseiten bekleideten Tiere ohne jegliches Attribut der Zivilisation, ganz natürlich ihrem Ziel zu.
Heinrich von Kleist (Text) & Hanna Jung (Illustrationen): Über das Marionettentheater
Kunstanstifter, 2019, 36 Seiten Hardcover