Anne von Canal - Der Grund

Lawrence Alexander, Mitte Vierzig,

ist Pianist auf einem Kreuzfahrtschiff. 

Mit diesem verlässt er Venedig in Richtung Tunis. Zwölf Tage später wird es in Dover anlegen. Das Universum, das sich in diesen Tagen auf dem Schiff gebildet hat, gehört damit der Vergangenheit an. Seiner eigenen Vergangenheit versucht Lawrence seit vielen Jahren zu entfliehen.

 

Der Pianist, oder, wie sein Vater sagen würde, der "Pianör", als Äquivalent zum Frisör, kam 1958 in Stockholm zur Welt.

Er wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf, in einer Villa am Stadtrand. Das einzige Kind war stets am Rand der Schusslinie seiner Eltern, für beide war er eher ein Projekt

als ein Mensch mit eigenen Wünschen und Vorstellungen.

 

Laurits Simonsen ist sein richtiger Name. Musikalisch begabt wie seine Mutter, fängt er als Fünfjähriger an, Klavier zu spielen. Es ist nicht seine Idee, aber er fügt sich. 

Frl. Andersson unterrichtet ihn zwei Mal die Woche und bald gewinnt er auch Freude am Spiel, entwickelt Ehrgeiz und liebt es, öffentlich aufzutreten. Mit achtzehn Jahren legt er die Aufnahmeprüfung am Konservatorium ab: er wird nicht genommen. Er ist am Boden zerstört.

Er wollte Konzertpianist werden.

 

Schon zuvor hatte sein Vater ihn zu einer Abmachung gezwungen: wenn es mit dem Konservatorium nichts wird, dann wird Laurits Medizin studieren und Arzt werden,

wie der Vater. Dieser ist ein Mensch mit starker Präsenz und klaren, konservativen Vorstellungen. Und er wollte nie,

dass sein Sohn Künstler wird.

 

Laurits diskutiert nicht, er studiert. Er entscheidet sich, Gynäkologe zu werden, nachdem die Geburt seiner Tochter Liis ein absolut einschneidendes Erlebnis für ihn war.

Er möchte sich dem Beginn des menschlichen Lebens widmen. In den Augen des Vaters ist dies natürlich eine Fehlentscheidung, die Chirurgie ist die Königsdisziplin.

 

Ganz informell und ohne Feier heirateten Laurits und Silja wenige Wochen vor der Geburt Liis.

Sie sind ein glückliches Paar, fein aufeinander eingestimmt.

Anlässlich des zehnten Hochzeitstages gibt es eine Familien-feier in einem Weinkeller, mit gutem Essen und Reden.

 

Dieser Abend verändert Laurits Sichtweise auf sein ganzes Leben. Er erfährt, dass sich sein Vater mehr als er es je für möglich gehalten hätte, in sein Leben eingemischt hat.

Und dass seine Mutter es wusste, auch sein Onkel.

Alle scheinen es gewusst zu haben, nur er selbst nicht.

Laurits taucht ab in eine zweiwöchige Migräne, es ist wie ein Ausklinken aus der Welt.

 

Wenig später siedeln Laurits, Silja und Liis um nach Tallinn.

Siljas Eltern kommen von dort, sie sind bereits zurückgekehrt nach vielen Jahren im schwedischen Exil.

Beruflich fassen die Eltern recht schnell Fuß, auch Liis lebt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten ein.

 

Laurits hat den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen,

doch Liis liebt ihre Großeltern, die mit ihr ganz anders umgehen als mit ihrem Sohn, und auch Silja hält die Verbindung aufrecht.

Beinahe hätte Laurits sich überwunden, und wäre mit Liis zum sechzigsten Geburtstag der Mutter nach Stockholm gefahren, doch er kann nicht frei nehmen.

Liis fährt alleine mit der Fähre, mit ihren zwölf Jahren ist sie groß genug.

Am 28. September 1994 legt das Schiff ab. Ein Ereignis, das Laurits uns Siljas Leben abermals komplett verändern wird.

 

 

Der Roman setzt ein im Jahr 2005. Aus Laurits ist Lawrence geworden, kein Konzertpianist, sondern ein Unterhaltungs-musiker. Den Arztkittel hat er an den Nagel gehängt.

Als er abreist, hat er gerade erfahren, dass seine Freundin in Venedig, Rosa, schwanger ist. Doch er will kein Kind mehr.

Schon der Junge, der sich auf dieser Reise so gerne in seiner Nähe aufhält, der zwölfjährige Henrik, ist ihm zuviel.

Henriks Vater arbeitet auf dem Schiff, er hat keine Zeit für den Sohn, dieser muss sich selbst beschäftigen.

Henriks Vater verlässt das Schiff zwei Tage vor der Ankunft in Dover, Henrik wird in dieser Zeit schwer seekrank.

Und Lawrence fragt sich, ob es richtig war, den Jungen alleine auf dem Schiff zu lassen, schließlich hätte er den Vater dringend gebraucht.

 

Das ist eine Rückbindung an Liis. An sein altes Leben,

als er noch Laurits war und die Verantwortung für ein

junges Leben trug.

 

Die Kapitel, die im Jahr 2005 spielen, sind in der Gegenwart geschrieben und werden von einem "Ich" erzählt.

Die anderen Kapitel, die sich den Jahren 1992, 1994 und 1996 widmen, berichtet ein Erzähler in der Vergangenheitsform.

Und stellt so Distanz her.

 

Da die Autorin zwischen den einzelnen Lebensabschnitten wandert und die Geschichte sich stückchenweise formt und erschließt, taucht der Leser tief ein in die Entwicklung der Personen. Fein sind die Verbindungslinien gezeichnet,

die zwischen Laurits und Lawrence bestehen, und die die Zeiten miteinander verweben. 

Mehrere Neuanfänge hat er gemacht in seinem Leben,

die Frage ist, ob er es schafft, wieder Laurits zu werden.

 

"Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen? Wie viele Chancen hat man? Und wie oft kann man das eigentlich aushalten? Wie oft kann ich mich häuten, bis nichts mehr von mir übrig ist? Was fange ich an, wenn wir Dover erreicht haben?"

 

Anne von Canals Debütroman ist psychologisch tiefgründig, doch sie schreibt in einer leicht lesbaren, bilderreichen Sprache, die ihn nicht zu schwer werden lässt.

Nicht nur die Hauptperson wird ausgeleuchtet, auch die Nebenpersonen erhalten Konturen, die sie sehr lebendig machen. Wie gerne würde man einmal zum Kaffee bei Siljas Mutter Kirke eingeladen werden....

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anne von Canal: Der Grund

Mareverlag, 2014, 272 Seiten

Rowohlt Taschenbuch, 2016, 272 Seiten