Stephan Lohse - Ein fauler Gott

Ben ist elf Jahre alt, als er seinen achtjährigen Bruder Jonas verliert.

Er hatte "die Sache" im Freibad - einen Krampfanfall, aufgrund dessen er ins Krankenhaus kommt. Dort stirbt er zehn Tage später. Vermutlich an einer Infektion, jedenfalls nach hohem Fieber und der Hilflosigkeit der Ärzte.

Nun ist Ben alleine mit Mami, die Eltern sind geschieden.

 

Der 1964 geborene Autor ist in etwa so alt wie seine Protagonisten, der Roman spielt in den Jahren 1972/73.

Die Besonderheiten und die Atmosphäre der frühen Siebziger sind wunderbar dargestellt, sehr gut getroffen.

 

Die Jungs tragen noch immer Strumpfhosen, sie schauen sich "Flipper" im Fernsehen an, Ben gewinnt bei einem Gewinnspiel eine Kodak-Instamatic mit Blitzwürfel, die Mutter putzt mit Poliboy und kauft gerne all die neuen, in der Werbung angepriesenen Produkte.

Ruth, die Mutter, ist nicht berufstätig, sie kümmert sich um Haushalt und Kinder.

 

Nun, da sie nur noch ein Kind hat, klammert sie sich mit aller Kraft an den Gewohnheiten des Alltags fest, doch das reicht kaum aus, um sie über Wasser zu halten.

Immer tiefer versinkt sie in ihrer Trauer, immer öfter sitzt sie in ihrem Schlafzimmer auf der Heizdecke und weint.

Diesen Platz hat sie sich als Rückzugsort gewählt, sie hat sich vorgenommen, nicht mehr in der Öffentlichkeit zu weinen.

 

Es gibt immer wieder kleine Rückblicke in Ruths Leben. Woher sie kommt, wie sie ihren inzwischen Ex-Mann Hans kennen gelernt hat. Doch im wesentlichen ist das Geschehen auf die Gegenwart konzentriert und erzählt, wie Ruth und Ben mit dem Verlust von Jonas umgehen.

 

Der Leser begleitet Ben zur Schule, zum Fußball, ist bei seinem ersten Besuch im Freibad nach dem Unglück dabei, von dem die Mutter nichts weiß, erlebt Ben mit seinen Freunden und bei seiner Kur im Kinderkurheim Luginsland im Schwarzwald, das während seines Aufenthaltes dort vollständig abbrennt. Ben findet eine Art Notaufnahme im Jesuitenkolleg St. Blasien. Dort bekommt er hohes Fieber, die Patres beten für seine Genesung. Sein Zimmergenosse gibt ihm einen Band "Winnetou" zu lesen, das ist ein wichtiges Erlebnis für Ben.

 

Während Ben mit vielen Dingen beschäftigt ist und Ruth mit der Situation immer weniger zurecht kommt, entwickelt Ben ein großes Verantwortungsgefühl für seine "Mami."

Sehr oft verabschiedet er sich von Freunden mit den Worten:

"Ich muss nach Hause, meine Mutter wartet auf mich."

Leider stimmt das immer weniger, denn Ruth nimmt immer weniger Anteil an Bens Leben.

Einmal kommt er nach Hause und erzählt freudig:

 

"Ich bin jetzt Torwart." ...

"Was heißt das?"

"Beim Fußball."

"Bei welchem Fußball?"

"Bei dem in der Schule."
"Schwimmen gehst du wohl gar nicht mehr?" fragt Mami.

Sie reibt über ihren linken Handrücken, als hobelte sie das Holz glatt. Der Baum verwandelt sich in ein Möbel mit platten Flächen und scharfen Kanten. Was noch zu sagen wäre, friert an Bens Zunge fest."

 

Eine Zufallsbegegnung hilft Ben sehr. Der freundliche Herr Gäbler, der einen alten Opel Rekord ohne Räder, Dach und Fenster im Vorgarten stehen hat, lässt Ben mit diesem Auto "fahren." Sie machen sogar imaginäre Ausflüge damit und während diesen lernt Ben zaghaft, über seine Gefühle und Gedanken zu sprechen. Und wie das nun ist mit den Seelen, die jetzt bei Gott sind, der sich ja herzlich wenig um sie gekümmert hat, als sie noch lebendig waren und in Brüdern und Söhnen wohnten.

 

"Aber wenn sie ewig sind, werden die Seelen und die Büffel ja sehr alt. Dann bekommt Jonas eine tiefe Stimme und Falten und verliert seine Haare." ...

"Nein, die ewigen Jagdgründe musst du dir wie eine Lücke in der Zeit vorstellen. Dort wird Jonas für immer so bleiben, wie du ihn erinnerst. Und du erinnerst ihn jedes Mal, wenn du traurig wirst."

"Warum?", fragt Ben und hält sich am Lenkrad fest.

"Du kennst doch das leere Gefühl, das im Bauch entsteht, wenn du betrübt bist."
"Ja", sagt Ben und erinnert sich an einen Hunger, der sich mit Apfelkompott nicht stillen lässt.

"Dieses Gefühl nennt man Kummer. Der Kummer beschreibt die Lücke, in der die Seele existiert, die du vermisst, weil du den Menschen, aus dem sie hervorgegangen ist, geliebt hast. Für die Seele spielt die Zeit dort keine Rolle."

 

Ben kann sich eine Lücke ohne Zeit nicht vorstellen und überhaupt versteht er nicht ganz, was Herr Gäbler sagt.

Aber alleine, dass einmal jemand mit ihm über all diese Dinge spricht, ist eine Wohltat.

 

Zusammen mit dem normalen Leben um ihn herum schafft Ben es, um Jonas zu trauern, ohne das Vertrauen ins Leben zu verlieren. Er ist genau zwischen Kind und Jugendlichem,

was mit einer Geburtstagsparty bei seinem Freund Chrisse trefflich beschrieben wird: mittags veranstalten sie eine Schnitzeljagd, Klassiker bei Kindergeburtstagen, abends gibt es Party mit Engtanz und merkwürdig schmeckenden Küssen. Ben wächst aus seinen Kinderschuhen heraus,

was nichts anderes bedeutet, als dass er sich ganz normal entwickelt. Er weint um Jonas, er erinnert sich an gemeinsame Erlebnisse, er wundert sich, dass weder Mami noch Pappi wissen, warum Jonas immer solide Wände aus Lego gebaut hat, er bringt ihm einen Becher Joghurt auf den Friedhof, weil er ihm diesen noch schuldet und vergräbt ihn am Rand des Grabes. 

Er ist kein Wunderkind, aber er kämpft sich durch.

Manchmal mit Hilfe der Vorstellung, dass er sich in eine Maschine verwandelt. Manchmal auch damit, dass er aus Wut auf seine Mutter Sachen kaputt macht, die er ihr schenken wollte. Dann eben nicht, soll sie doch auch mal wegen ihm weinen, nicht immer nur wegen Jonas.

 

Der Erzähler bringt dem Leser diesen jungen Menschen sehr nah, ohne ihn zu glorifizieren. Er verzichtet nicht auf Ironie, denn immer wieder ergeben sich aus der Naivität Bens auch wirklich lustige Szenen.

Sehr gut ist auch der Schmerz von Ruth zu spüren, die ihr Augenmerk ab einem gewissen Punkt nicht mehr auf Genesung, sondern auf Erlösung richtet. Im finalen Sinne.

 

In der letzten Szene - Ruth und Ben sind in die Berge gefahren, nach Zermatt, weil Ruth als Kind dort einmal glücklich und in Sicherheit war  - kulminiert die Geschichte und viele Fäden, die vorher ausgelegt worden waren, werden zusammengeführt. 

 

Diese letzen zehn Seiten habe ich immer langsamer werdend gelesen, zu groß war die Angst vor einem schrecklichen Ende, denn Ruth hat alles sehr gut vorbereitet.

Aber ihr Sohn ist noch immer ein Kind, und die wollen spielen.

 

Stephan Lohse ist ein außergewöhnlicher Debütroman gelungen. Er führt seine Geschichte an zwei Personen entlang, die in einer außergewöhnlichen Situation aufeinander angewiesen sind. 

Ruth fühlt vor allem eine grausame Leere, Ben ist dabei,

das Leben zu entdecken. Neben die Trauer um den kleinen Bruder gesellt sich Neugierde auf all das, was da auf ihn zukommt. In dem Dreigestirn Trauer, Neugierde, Naivität gewinnt die Trauer nicht die Oberhand.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Stephan Lohse: Ein fauler Gott

Suhrkamp Verlag, 2017, 336 Seiten