Michael Lichtwarck-Aschoff -

Der Sohn des Sauschneiders - oder ob der Mensch

verbesserlich ist

Franz Megusar, der Sohn des

Sauschneiders, geboren Ende des

19. Jahrhunderts in der Krain, damals Österreich, heute Slowenien, hat einen Traum: er möchte das hornlose Rind züchten. Er möchte nicht die Hörner abschneiden, die Rinder sollen ohne diese Zier auf die Welt kommen, denn wozu brauchen sie die eigentlich?

 

 

Wie kommt ein junger Mensch auf eine solche Idee?

Franz war vierzehn, seine Schwester Jozefa drei, als das Unglück geschah: eine Kuh wurde zum Stier geführt, Jozefa war aus unerklärlichen Gründen im Stall, plötzlich "hatte

der Stier sein Horn in Jozefas Oberschenkel und schien das Mädchen aufspießen oder zertrampeln zu wollen oder beides."

 

Der ungeschickte Franz wächst für einen Moment über sich hinaus und rettet die Schwester. Sie überlebt, bleibt aber schief. 

 

Der erste Teil des Buches spielt in Steinbüchl, einem Dorf in einer sehr kargen Gegend. Hier gedeiht nichts außer Armut. Durch einen Zufall kommt Franz der Verwirklichung seines Traumes einen Schritt näher: er lernt Paul Kammerer kennen, der auf den Karstfeldern nach den sogenannten Drachenkindern sucht. Vermutlich handelt es sich um Grottenolme, Wesen mit zwei Heimaten, sie können im Wasser und an Land leben, sind blind, haben jedoch Anlagen für Augen.

 

Paul Kammerer (1880-1926) ist der berühmteste Biologe seiner Zeit. Er holt Franz kurz vor dem Ersten Weltkrieg  nach Wien ans Vivarium ("Biologische Versuchsanstalt"

von 1903-.1941). 

Mit dieser Arbeit kann Franz seine Familie unterstützen und vielleicht etwas über die Züchtung des hornlosen Rindes lernen.

 

Kammerer möchte beweisen, dass sich erlernte Eigen-schaften vererben lassen, sprich, dass Tiere verbessert werden können. Vielleicht sogar Menschen?

Eine gewagte These, gibt es doch auch Stimmen der Wissen-schaft, die davon ausgehen, dass alles immer gleich bleibt. 

Sein Gegenspieler, Othenio Abel (1875-1946), ein Paläonto-loge, vertritt diese Ansicht und setzt Kammerer und damit auch Franz mächtig zu.

 

Im zweiten Teil des Romans spitzt sich der Streit zwischen Kammerer und Abel zu. Dabei geht es nicht nur um Wissen-schaft, also objektiv beweisbare Erkenntnisse, sondern auch um Politik. Abel ist ein Vertreter der Rassentheorie, der Kammerer auch deshalb diffamiert, weil dieser Halbjude ist, Vorträge für das Rote Wien hält und den Frieden befördern möchte.

Abel hingegen wird von den "ausrasierten Hälsen" bejubelt, die Faschisten erlangen an der Universität wie an der Hofburg immer mehr Macht. Die Kriegstreiber verstehen ihr Handwerk. 

 

Bei der Züchtung des hornlosen Rindes geht es jedoch im Kern um ein Friedensprojekt:

 

"Man müsste das Rind vom Frieden überzeugen, du hast völlig Recht, Franz, das wäre es. Es muss merken, dass der Frieden losgegangen ist und die Hornlosigkeit. Diese Überzeugung wird es an die Kinder vererben. Die nächste Generation wird schon kleinere Hörner haben, oder nur noch eines. ... Ich weiß nicht, wie viele Generationen wir brauchen werden, um zu beweisen, dass sich Überzeugungen, also sagen wir: die Überzeugung von der Friedlichkeit, vererben. Dass einem das ins Blut geht. ...

Wenn es uns beim Stier glückt, dann muss es auch bei anderen Tieren gehen. Und warum sollte es dann nicht auch beim kompliziertesten, verschlagensten und geheimnisvoll-sten Tier funktionieren - beim Menschen? Warum sollte es dann nicht möglich sein, dem Menschen auf Dauer einzupflanzen, dass es gescheiter ist, Frieden zu halten?

Eine glückliche Zukunft auf planmäßiger, wissenschaftlicher Grundlage. Das alles steckt in dem, was du so bescheiden Hornlosigkeit nennst."

 

 

Da es auch bei Kammerer nicht absolut ehrlich und objektiv zugeht, gerät Franz schließlich in eine arge Zwickmühle. Muss er jetzt die Wahrheit opfern, um die Wahrheit der Zukunft nicht zu gefährden?

 

Diese Frage soll hier unbeantwortet bleiben.

Franz jedenfalls wird den Heldentod auf dem Schlachtfeld sterben. Seine Schwester Jozefa wird es mit Musik schaffen, ein hornloses Kalb auf die Welt zu bringen. Sie entwickelt sich zu einer selbstbewussten jungen Frau, die ihren eigenen Weg geht.

So auch Marija, ein Mädchen aus Steinbüchl, das mit nach Wien gegangen war, um ein Auge auf Franz zu werfen, sich dann aber der sozialistischen Idee verschrieb.

 

Erzählt wird der Roman von einem Ich-Erzähler, der die Fakten aus Franz´ Leben zusammentragen soll, damit Professor Hans Leo Przibram (1874-1944), Chef des Vivariums, den Nachruf verfassen kann. Dieser Erzähler ist ein Kollege und Freund von Franz, Vater von Jozefas Tochter und - er sagt es nicht gerne - er war Abels Spion im Vivarium.

 

Dieser Betrachter von außen, der mitten drinsteckt, gibt Michael Lichtwarck-Aschoff Raum, seine Geschichte auszu-fabulieren. Denn von trockener Wissenschaft kann keine Rede sein. 

Die Debatte um verschiedene Ansätze und Richtungen in der Forschung wird via Kammerer und Abel ausgetragen.

Die Not der Menschen, ihre Hoffnungen und ihre Suche nach Antworten, ihre Geradlinigkeit oder ihre Launenhaftigkeit, der Fortschritt, der nie allen nützt, all diese Themen werden anhand der Familie Megusar erzählt.

 

 

Michael Lichtwarck-Aschoff  verknüpft gekonnt Wissen-schaft, Zeitgeschichte, die Rolle der geistigen Haltung des Forschers und des Betrachters mit all den persönlichen Vorlieben, Ängsten, Erlebnissen, der Suche nach Wahrheit, genauso wie der nach der Ruhm. Und damit stellt er erneut die Frage nach der Objektivität, das Merkmal der naturwissenschaftlichen Forschung überhaupt.

Der Autor nimmt Gedanken seines 2017 erschienenen Buches "Als die Giraffe noch Liebhaber hatte" auf und

spinnt sie fort - hintergründig und mit viel Sprachwitz und Phantasie. Er hat mit dem Franz eine Figur geschaffen,

die zwei Heimaten hat und einen Traum, die überall dazwischen gerät und doch nur eines wollte: Friedfertigkeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Michael Lichtwarck-Aschoff: Der Sohn des Sauschneiders

oder ob der Mensch verbesserlich ist

Klöpfer, Narr, 2019, 358 Seiten