Norman Levine - Das Mädchen von nebenan

und andere Erzählungen

Nach dem Roman "Aus einer Stadt am Meer" liegen nun auch zwölf bislang unveröffentlichte Kurzgeschichten des Kanadiers Norman Levine auf Deutsch vor. In allen erzählt ein Schriftsteller in der Ich-Perspektive aus seinem Leben, das eng an das des Autors angelehnt ist. Die Geschichten spielen in Kanada oder Cornwall, zwischen denen auch Levine pendelte.

 

Norman Levine, 1923 in Polen geboren, kam als Kind mit seinen Eltern, orthodoxen Juden, nach Kanada. Zwischen 1943 und 1945 war er als Pilot in England stationiert, wohin er nach einem Anglistikstudium in Kanada zurückkehrte.

Ab 1949 lebte er für dreißig Jahre mit seiner Frau in St. Ives, einer Künstlerkolonie in Cornwall, wo er auch mit Francis Bacon Freundschaft schloss.

 

All diese biografischen Details tauchen verstreut in den Erzählungen, die sich vorwiegend um alltägliche Ereignisse ranken, auf. Er erzählt von seiner Arbeit als Englischlehrer, von seinem Schreiben und seinen Schreibkrisen, von Besuchen der Mutter oder der Schwester in Cornwall.

Spaziergänge durch den kleinen Ort oder die Umgebung werden gemacht, alte Freunde empfangen, mit Nachbarn geplaudert. Den Geschichten alter Menschen gelauscht.

Er besucht die Tochter im Krankenhaus, die Mutter im Altenheim.

Immer wieder fliegt er nach Kanada, eine Lesereise, ein Verwandtenbesuch oder eine kleine Flucht sind die Anlässe. 

 

Die Kunst Levines liegt in seiner Erzählweise. Diese ist knapp gehalten, schnörkellos, er verzichtet auf große Emotionen, bzw. reflektiert diese sehr zurückhaltend. 

Doch in dieser Schlichtheit verbirgt sich der Kern des Wesentlichen, das ohne Dramatik ausgesprochen wird.

Er befasst sich mit den `großen´ Themen der Literatur, mit der Suche nach Heimat, mit Erinnern oder Vergessen, Scheitern oder Gelingen. 

Beeinflusst durch die moderne Malerei, mit der er in St. Ives in Kontakt gekommen war, versucht er, deren Direktheit und Unmittelbarkeit auf die Literatur zu übertragen.

 

Er beschreibt eindrücklich die Umgebung, und seinen Protagonisten darin.

 

"Dann, im Dezember, bei aufkommendem Nebel, in grauem Licht, entdeckte ich dieses Anemonenfeld. ... Da waren blaue, violette, dunkelrote, hellrote und weiße und rosa Töne. ... Manche waren weit geöffnet mit dunklem Zentrum. Andere trieben Blüten ..."

Dieser Absatz endet mit den Worten:

"Ich kam hierher, nur um mir dieses Feld anzuschauen. Und mich nach dem Schnee, der knackigen Luft, dem grellen Licht an sonnigen Tagen (in Kanada) zu sehnen."

 

Die hier angesprochene Zerrissenheit, die Sehnsucht, die ihn begleitet, egal, an welchem Ort er gerade ist, egal wie zauber-haft dieser ist, ist das grundlegende Lebensgefühl des

Ich-Erzählers.

 

Die Geschichte "Jahrgang 1949" erzählt vom Treffen des Protagonisten mit einem alten Freud. Mit ihm hatte er den Abschluss in Kanada gemacht, mit ihm war er nach London gekommen und nach St. Ives, beide arbeiteten an ihrem Debütroman. Nach mehr als zwanzig Jahren spazieren die beiden zusammen durch den Ort - Victor, der Freund, kann sich an nichts erinnern. Weder an Gebäude, noch an Personen oder Ereignisse. Er hat auch, im Gegensatz zum Erzähler, das Schreiben aufgegeben.

 

"Victors Besuch hatte mich unzufrieden gemacht mit dem Leben, das ich führte. Warum bin ich an diesen Schreibtisch gefesselt?, fragte ich mich. Was ist so wichtig am Schreiben? Victor lebte ein viel freieres Leben. Er war ein der ganzen Welt herumgereist und tat es weiterhin. Aber wenn ich mal eine Reise mache, dann zurück nach Kanada - um mit der Vergangenheit verbunden zu bleiben. Eine weitere Fessel. ... Ich beneidete ihn plötzlich um seine Freiheit. Fesseln und Freiheit, dachte ich. Fesseln und Freiheit."

 

Erinnern oder Vergessen ist die übergeordnete Frage, die sich durch die Erzählungen zieht. 

So fragt der Schriftsteller einmal seine betagte, vor Jahr-zehnten aus Polen eingewanderte Mutter, ob sie den Film Shoah im Fernsehen gesehen habe. 

"`Nein´, sagte sie leise. `Ich gucke Springfield Story und Schatten der Leidenschaft. ... Das sind Seifenopern´, sagte sie laut. Und sie war verärgert." 

 

Man muss sich erinnern, um schreiben zu können.

Muss man vergessen, um leben zu können?

 

"Die Fähigkeit zu vergessen" ist der Titel der letzten Erzählung. Sie berichtet von einem Mann, der zu tief in die Vergangenheit eingetaucht ist und darin verschwindet.

 

Levine bricht die allzu biographische Sicht auf seine Erzählungen, indem er verschiedene Ehefrauen, Töchter

oder Schwestern an die Seite seines Protagonisten stellt,

der konsequent in der Ich-Form erzählt. 

Durch diese Auffächerung bildet er ein weites Feld an menschlichen Eigenschaften, Regungen, Reaktionen, ab.

Sie erscheinen wie Farbtönungen auf einem Bild, das, je länger man es betrachtet, desto mehr Details aufweist.

Das ist die Kunst des Schriftstellers Norman Levine, der 2005  in Darlington, im Nordosten Englands, verstarb.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Norman Levine:

Das Mädchen von nebenan und andere Erzählungen

Aus dem Englischen von Thomas Löschner

mitteldeutscher verlag, 2021, 200 Seiten

(Die Erzählungen entstanden zwischen 1971 und 2003)