Noëmi Lerch - Willkommen im Tal der Tränen

 Erst einmal anfassen, darüberstreichen, drehen und wenden, durchblättern, von vorne nach hinten und zurück. Innen viel schwarz, viel weiß, wenig Text, hinge-strichelte Zeichnungen. Was für ein Willkommen eines Buches! Noëmi Lerchs drittes Werk „Willkommen im Tal der Tränen“ (2019) ist ein Hingucker, ein Künstlerbuch, eine karge Schönheit.

Es ist so ganz anders beschaffen als seine Vorgänger „Die Pürin“ (2015) und „Grit“ (2017) – und doch führt auch das „Tal der Tränen“ wieder ins Schweizer Hochgebirge hinauf und tief hinein. Lerch wurde für dieses Buch nun, das eigentlich ein Gemeinschaftswerk ist, erst kürzlich mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Für den Umschlag und die Gestaltung ist das Künstlerduo Walter Wolff verantwortlich.

Es herrschen also Formbewusstsein und Minimalismus auf allen Ebenen. Zu den knapp 280 Textseiten im Blocksatz gibt es auf der linken Buchseite jeweils eine Illustration auf schwarzem Grund. Zwei Seiten bleiben tief schwarz. Text und Zeichnung stehen jeweils mittig, einander symmetrisch gegenüber.

Eine besondere Symbiose gehen sie miteinander ein. Der Bildteil übersetzt die präzise, schlichte, oft bildhafte Sprache der Autorin in eine eigene Schöpfung, mit viel dünner Schraffur und feinem Strich entstehen Fantasieformen, die bisweilen variiert, erweitert, auseinander hervorgehen, gibt es Berge, Täler, Tiere, Wolken, Blumen, Blüten, Sonnen, Monde und Kringel. Es kann auch sein, dass es im Text um Brot geht, in Wahrheit aber um Sprache, Schweigen und Verstehen.

 

Das Brot bleibt fremd wie die Sprache. Es ist wie Papier, hat kein

Gewicht. Legt man etwas drauf, fällt es hinunter. Will man es

bestreichen, reisst es in Fetzen. Man kann soviel essen davon, wie

man will. Es macht nur Hunger, nach einem anderen Brot, das we-

niger fremd ist. Man lässt es liegen. Hart werden. So lange, bis man

mit dem Beil draufhauen muss.“

 

Die dazugehörigen Bildlein bleiben auch auf den Folgeseiten nah dran am Brot, schneiden es auf, bis hin zum Buttermesser, das eine Scheibe beschmiert.

 

Für die Figur des Tuinar ist es also schwierig mit der Sprache. Dabei: Er hat ja seine Hände zum Anpacken. Und er ist auch einer, der vom Meer kommt, kein Mensch der Berge. Das, was Lerchs Erzählerfigur in kurzen und kürzesten Szenen erzählt, ist die Geschichte einer traditionellen Sommersaison auf einer Weidealm, der Alp, wie es im Jargon heißt. Es ist die Zeit des „Alpaufzugs“, die Kühe müssen in die höheren Gebirgslagen.

 

Zoppo, der Senn, und der Hirte Lombard bekommen Hilfe vom Zusenn, das ist unser Tuinar: „Der Mann für alles.“ Lerch war selbst mal so einer. Der Tuinar ist ein einfacher, aber tiefsinniger Mann. Drei eigenwillige Gestalten also, die miteinander auskommen, arbeiten, gemeinsam am Tisch und in der Kirche sitzen müssen. Worüber es nichts zu sagen gibt, wird geschwiegen. Kaum einmal gibt es direkte Reden. Den Dialekt der beiden versteht der Gehilfe nicht, die Anweisungen schon. Im „Tal der Tränen“ herrschen Stille, Kargheit und die Kraft der Natur pur, mal regnet es. Tränen gibt es beim Tuinar nur einmal. Über die Touristen ärgert man sich, versorgt sie aber auch mit selbst gemachtem Käse.

 

So dehnt sich über den Sommer die Zeit, zu tun gibt es viel, und der Tuinar „versucht, die Tage zu zählen bis zum Ende des Sommers“. Die Empfindungen, Stimmungen, Wahrnehmungen steigern sich im Verlauf und die Figuren ziehen sich in eine Innerlichkeit zurück.

„So sind an einem finsteren Herbstabend alle verschwunden. Jeder auf seine Art.“ Das wird das einsame und harte Leben in den Bergen mit ihnen machen. Da blitzen die reduzierten Sätze von Noëmi Lerch nur so.

 

 

Das Buch ist einem Jahresreigen gleich in vier Kapitel unterteilt (Leben, Arbeit, Natur, Sterben), das erkennt man schon von außen am streifigen Buchrücken. Ja, auch wenn nur ein langer Sommer ins Land zieht, so ist es doch auch eine Geschichte vom Werden und Vergehen. Noëmi Lerch weiß sie auf ebenso beseelte wie kraftvolle Art in diesem kostbaren Buch zu erzählen.

 

 

 

 

 

 

Noëmi Lerch: Willkommen im Tal der Tränen

Verlag die brotsuppe, 2019,288 Seiten

 

 

 

 

 

Diese Besprechung ist ein Gastbeitrag von Senta Wagner