Hartmut Lange - An der Prorer Wiek und anderswo
Zehn Novellen, zwischen acht und fünfzehn Seiten lang, vier davon an der Ostsee angesiedelt, eine in Lille, Frankreich, die restlichen fünf in Rom. Ob Seebad oder ewige Stadt, die Orte bieten eine großartige Kulisse für diese Texte, die auch von der Auslassung leben, wie Skizzen messerscharf gezeichnet sind und ohne ein Wort zu viel eine dichte Atmosphäre aufbauen, die aus weit mehr als der Realität besteht.
Die an der Ostsee spielenden Novellen kreisen um Malerei.
Ein Maler zweifelt an sich und seiner Kunst.
Der Mönch aus Caspar David Friedrichs Gemälde, das in der Berliner Alten Nationalgalerie hängt, ist plötzlich aus dem Bild verschwunden. Der Ich-Erzähler trifft ihn in Binz.
Eine Frau, die sich von der "Strapaze" ihrer Ehe erholen möchte, fühlt sich belästigt vom Anblick eines Bildbandes im Schaufenster einer Buchhandlung: "Liebe, Angst, Tod".
Es ist ein Ausstellungskatalog mit Bildern Edvard Munchs.
Eine junge Frau, die, bevor sie tot war, in der Villa, die in der ersten Geschichte sehr wichtig ist, dort Klavier spielte, kehrt zurück und findet das Klavier im Keller. Sie dürfte die Frau sein, die der Maler hatte porträtieren wollen, nachdem er das Gefühl hatte, sie sei "durch ihn hindurchgegangen."
Der Maler trägt den Namen Henning Biesterfeld, Frau Frühwald ist diejenige, die sich von der Ehe erholen möchte.
Die Orte: Villa, Museum, Hotel und Meer.
Die in Rom spielenden Novellen widmen sich der Kunst und Antike.
Der 1821 in Rom verstorbene englische Dichter John Keats geistert über die Spanische Treppe und fühlt sich missverstanden.
In der Villa Massimo unterhalten sich Statuen, die falsch zusammengesetzt wurden, auch sie sind recht ungehalten.
Ein Altertumsforscher entdeckt die Katakomben (für sich) und erschaudert ob des Satzes: "Bedenke, dass du sterblich bist."
Ein Kenner des deutschen Klassizismus streift durch die Villa Albani, anwesend ist außerdem ein mysteriöser Aufseher.
In der zehnten Novelle begegnet der Ich-Erzähler auf dem Friedhof, auf dem er Senecas Grabmal sucht, drei Reitern. Wie in einem Film wechseln sie das Aussehen, in Wirklich-keit sehen sie aus "wie jedermann."
Die Altertums- und Antikenkenner heißen Werner Rohrbach und Herbert Guttendorfer.
Die Orte: Spanische Treppe, Villa Massimo, die Katakomben, Villa Albani, ein Friedhof in der Umgebung der Via Appia.
Alle Novellen erzählen von der Suche, der Vergeblichkeit und der Vergänglichkeit. Sie berichten von Begegnungen Lebender mit Toten, die Wiedergänger tauchen auf an Orten, die ihnen im Leben wichtig waren. Sie verwickeln die Lebenden in Situationen, die diese mehr als nur streifen.
Die Wiedergänger müssen nicht unbedingt Personen sein,
die einmal in Fleisch und Blut gelebt haben, es können Bilder sein, hier trifft es das englische Wort "images" vielleicht besser. Glasklar ist, dass die Realität aus mehr als dem Sichtbaren besteht.
Hochinteressant an diesen Novellen ist ihre Verknüpfung untereinander. So taucht in "Und nochmals an der Prorer Wiek" eine Textpassage auf, die wörtlich aus der ersten Novelle "An der Prorer Wiek" übernommen wurde.
Einige Worte fehlen. Es wird die Villa, in der Biesterfeld malt, beschrieben. Im zweiten Fall nicht durch seine Augen gesehen, sondern als Beschreibung eines Ortes, an den die tote junge Frau gleich kommen wird.
Das enthebt einen konkreten Ort der Zeit und Hartmut Lange verwischt so mit einem einfach erscheinenden Kunst-griff die Ebenen der Wahrnehmung.
Aus diesen Novellen, die durch Orte oder Namensgebungen untereinander verflochten sind, fällt eine Novelle heraus.
"Emilys Schatten." Emily ist siebzehn, sie lebt mit ihrer Mutter in Lille, das sich "in der Nähe der Küste" befindet,
und besucht dort die "Privatschule Notre Dame de la Paix."
An dieser Schule herrscht keine Spur von Frieden, jedenfalls nicht für Emily, die die einzige Hauptperson des Buches ist, die mit dem Vornamen angesprochen wird.
Emily lebt nicht in dieser Schwebe von Kunst und Wieder-gängern, sie erlebt Tag für Tag brutales Mobbing ihrer Mitschüler. So lange sie ihren Schatten hat, kann sie sich verstecken, er beschützt sie. Sie hat nur einen Schatten (dieser ist hier ganz konkret gedacht), so lange die Sonne scheint oder Licht auf sie fällt. Dann sorgt er für "die nötige Dunkelheit." Emily ist so einsam, dass dieser Schatten ihr einziger Gefährte ist.
Gibt es ein eindrücklicheres Bild für Einsamkeit?
Langes Novellen sind jede für sich ein Konzentrat.
Jede einzelne muss man mehrmals lesen, um sie inhaltlich und stilistisch zu erfassen. Und dann beginnt die Suche nach den inneren Verbindungen...
Das Buch ist ein großer ästhetischer Genuss und eine geistige Herausforderung. Das Spiel mit der Realität beherrscht Lange wie kein Zweiter, er liebt es, seine Leser zu überraschen und er ist ein Meister der Dramaturgie.
Hartmut Lange: An der Prorer Wiek und anderswo
Diogenes Verlag, 2018, 96 Seiten