Agota Kristof - Das große Heft

Die 1935 in Ungarn geborene Schriftstellerin verließ ihre Heimat im Jahr 1956 nach der Niederschlagung des Volksaufstandes. Zusammen mit ihrem Mann und ihrem Baby ging sie in die Schweiz. Dort arbeitete sie in einer Uhrenfabrik und lernte Französisch -

in dieser Sprache verfasste sie seit den 70er Jahren ihre Werke. Das sind neben Büchern Hörspiele und Theaterstücke.

 

Der Roman "Das große Heft" erschien 1986 in Paris.

Im Mittelpunkt stehen Zwillingsbrüder, sie dürften ungefähr neun Jahre alt sein. Gleich zu Beginn des Romans bringt eine Mutter ihre beiden Kinder zur Großmutter aufs Land. In der Großen Stadt, wo sie bisher lebten, gibt es nichts mehr zu essen, Bomben fallen. In der Kleinen Stadt der Großmutter sollen die Kinder den Krieg überstehen.

 

Man weiß nicht, wo der Roman spielt, vermutlich in Osteuropa, das lässt sich am Ende aus den Bewegungen der Flüchtlinge und den ihnen entgegenkommenden Kriegsgefangenen schließen. Außerdem spricht die Großmutter die Sprache der "Befreier", es ist ihre Muttersprache. Das Land wird nach dem Krieg von Stacheldraht umgeben und isoliert sein.

 

Die Großmutter ist das Gegenteil dessen, was man gemeinhin mit diesem Begriff verbindet: kein Hauch von Wärme oder Güte umgibt sie. Sie ist der personifizierte Überlebenswille - und der kümmerst sich erstmal um sich selbst. Die Kinder müssen sich an harte Arbeit gewöhnen, schließlich bekommt niemand etwas umsonst. Sie gehen in den Wald und holen Holz, sie arbeiten im Garten, kümmern sich um die Tiere.

 

"Wir müssen einige Arbeiten für Großmutter verrichten, sonst gibt sie uns nichts zu essen und läßt uns die Nacht draußen verbringen."

 

Überall ist es schmutzig. Die Großmutter wäscht weder sich selbst noch ihre Kleider, es gibt nicht einmal eine Waschgelegenheit. Bald starren auch die Jungs vor Dreck:

das ist nur eines von vielen Dingen, an die sie sich gewöhnen müssen.

 

Sie machen "Übungen zur Abhärtung des Körpers" (Hunger, Kälte, Schmerz ertragen),  sie üben sich in der "Abhärtung des Geistes" (Schimpfworte und Anfeindungen ertragen; ebenso die Erinnerung an "süße Worte" tilgen). Sie üben sich im Betteln, Stehlen, im Lügen und in Grausamkeit, im Drohen und Erpressen. Sie lernen sich gegen die Großen zu wehren, begreifen aber auch, dass es Momente gibt, in denen sie helfen müssen: dem Mädchen mit der Hasenscharte, die auch so genannt wird, und ihrer Mutter. Ohne die Hilfe der Jungen hätten diese beiden den Winter nicht überstanden.

 

Die beiden Jungen, die immer im "wir" sprechen und von denen nie einer irgendetwas alleine unternimmt, entwickeln sich zu ausgekochten Satansbraten.

 

Dabei verfolgen sie nur ein Ziel: sie möchten in der Wirklichkeit leben. Sie glauben nicht an Gott, sondern an das, was sie täglich vor sich sehen.

Und das ist eine Zivilisation, die zusammenbricht und im Schlamm versinkt.

Begegnungen mit Erwachsenen bringen meist die Erkenntnis, dass man von ihnen lügen, betrügen usw. lernen kann, aber keinen menschlichen Umgang.

 

Der Pfarrer fragt sie: "Ihr kennt also die zehn Gebote. Beachtet ihr sie? - Nein, Herr Pfarrer, wir beachten sie nicht. Niemand beachtet sie. Es steht geschrieben: Du sollst nicht töten, und alle Welt tötet."

Und: "Wir beten nie, das wissen Sie. Wir wollen verstehen."

 

Von mehreren Menschen werden sie sexuell benutzt, überhaupt kommt Sexualität nur in erniedrigender Form vor. Höhepunkt an Einsamkeit ist eine Szene, in der Hasenscharte sich von einem Hund begatten lässt.

"Nur die Tiere mögen mich", sagt sie weinend.

Pfarrer, Magd, Offizier und Adjutant: bei allen drückt sich in einer geilen Lüsternheit eine Art Endzeitstimmung aus.

 

Das absolut Bemerkenswerte an diesem Roman ist der Mut dieser Jungen. Sie verfügen über einen eisernen Überlebens-willen, der sich aber aus anderen Quellen speist als der der Großmutter. Und sich auch den Mitmenschen gegenüber anders äußert. Die Jungen scheinen eine Art unzerstörbaren Kern in sich zu tragen, an den nichts herankommt, egal, was sie tun, egal was ihnen angetan wird.

Sie lernen, saugen auf , entwickeln sich und tun das Nötige - das, was die Vernunft gebietet. Gebietet diese eine Morddrohung, gut, dann muss es so sein.

 

Kristof erzählt in einer Sprache, die ebenfalls sehr bemerkenswert ist. Die Überschriften der selten mehr als zwei Seiten langen Abschnitte, können wie eine Art Notizbuch gelesen werden: was passiert auf den folgenden Seiten? Sucht man eine bestimmte Stelle, um sie noch einmal zu lesen, findet man sie sofort, so klar ist die Einteilung.

Auf Ausschmückungen und Ausschweife verzichtet Kristof vollständig. Sie erzählt, was die Jungen und die anderen Personen tun, sie interpretiert und deutet dieses Tun nicht.

Sie konstatiert, ungeschönt.

Das macht das Schicksal der Kinder um so ergreifender.

 

Die Großmutter erscheint als Personifikation der Entmenschlichung, wie sie mit dem Krieg einhergeht.

Ganz am Anfang sagt sie: "Ich werde euch zeigen, wie man lebt!"

Sie zeigt ihnen, dass sie um alles kämpfen müssen.

Bald sind die Jungen jedoch cleverer als die Großmutter und tricksen sie aus. 

Als die Mutter am Ende des Krieges kommt, um ihre Kinder abzuholen, und mit ihnen das Land zu verlassen, gehen die beiden nicht mit.

 

"Uns geht es sehr gut hier, Mutter. Fahren Sie ruhig ab.

Es geht uns sehr gut bei Großmutter. .. Wir wollen nicht weg."

 

Sie sind keine Kinder mehr, dafür haben sie schon zu viel gesehen. Sie müssen auch nicht mehr zur Schule gehen,

sie werden befreit. Sie pflegen die Großmutter, die schwer krank wird und meistern ihr Leben alleine.

 

Die allergrößte Prüfung kommt jedoch ganz am Ende.

Sie wird alles in Frage stellen, was vorher war...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Agota Kristof: Das große Heft

Übersetzt von Eva Moldenhauer

Rotbuch Verlag, 1999 - vergriffen

Piper Taschenbuch, 2013, 176 Seiten

(Originalausgabe 1986)