Chris Kraus - I love Dick
Chris Kraus wurde 1955 in New York geboren, wuchs in Neuseeland auf, wo sie studierte und als Journalistin arbeitete. Später kehrte sie nach New York zurück, drehte Filme und schrieb Theaterstücke - und wurde Teil der Kunstszene, sie verfügt also über einen profunden Einblick in diese Welt.
In ihrem Buch, das 1994/5 spielt, ist es Chris (39), verheiratet mit Sylvère Lotringer (56), die sich in einen Kollegen ihres Mannes verliebt. Chris macht experimentelle Filme, verdient damit so gut wie nichts, ist also finanziell auf ihren Mann, der am College in New York unterrichtet, angewiesen. Nebenbei unterrichtet auch sie am College. Außerdem verdienen die Beiden etwas Geld mit ihren Immobilien, die instand zu halten recht viel Aufwand mit sich bringt.
Zu Beginn halten sie sich in der Nähe von Pasadena auf, unterrichten einmal pro Woche in Los Angeles.
An irgendeinem Abend sind sie bei Dick (46), einem Kulturwissenschaftler, zu Gast.
Ein Abend, an dem über alles Mögliche geplaudert wird,
und der Chris´ Leben verändert.
"Weil die Beiden nicht mehr miteinander schlafen, halten sie ihre Intimität via Dekonstruktion aufrecht, d.h. sie erzählen einander alles."
Beide, Chris und Sylvère, schreiben Briefe an Dick. Liebesbriefe. Jeder für sich oder zusammen. Überlegen, ob sie ihn anrufen sollen oder ein Fax schicken, gehen durch, was an jenem Abend geschah - das Leben beginnt, sich nur noch um Dick und die Briefe zu drehen.
Um diesen exaltierten Zustand am Leben zu halten, planen sie eine gemeinsame Performance in Dicks Garten:
die Briefe sollten an seine Kakteen geheftet werden und
Chris will filmen, wie Dick sie entdeckt.
Sylvère ist nicht bürgerlich eifersüchtig, sieht sich selbst als Teil dieser "fiktionalen Liaison". Er findet es anregend, dass seine Frau plötzlich so lebendig ist und auch wieder zu einem sexuellen Wesen wird. Er steigt anfangs vorbehaltlos ein in diese Mènange-a-trois, die ja im übrigen nur in den Köpfen der Beiden stattfindet.
"Wenn man so intensiv im eigenen Kopf lebt, dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem, was man sich ausmalt und dem, was tatsächlich passiert."
Ein Thema der Briefe ist das Reflektieren über Realität und Fiktion. Chris versucht, die Grenzen auszuloten, zu verschieben, in Frage zu stellen.
Später schreibt sie: "Lieber Dick, ... du wirst zu meinem Lieben Tagebuch. ... Dieser unglaubliche Drang danach, GEHÖRT ZU WERDEN."
Dies ist ein weiteres Thema: die Schwierigkeit für Frauen, gehört zu werden.
In diesem zutiefst feministischen Buch macht Kraus weite Ausflüge in die Welt der Kunst und Wissenschaft.
Ob es sich um Konzeptkunst und Performances handelt,
um bildende Künstlerinnen, Musikerinnen oder Schriftstellerinnen: sie alle werden zuerst einmal als
Frauen beurteilt. Oder einfach gar nicht gesehen, oder zwar gesehen aber totgeschwiegen, wie viele Kunsthappenings,
die von Frauen initiiert werden und über die kein Wort in
der Presse erscheint.
Ist eine zu ehrlich, sagt man ihr nach, sie verletze die Privatsphäre. Endete ein wildes Leben zu früh, wird der Tod "zum Resultat ihrer Probleme". Bei Männern ist es die "Folge ihres Lebens". Liest eine Frau auf einem Festival, kann es sein, dass sie das um 2 Uhr morgens tun muss, wenn nur noch ein paar Betrunkene zuhören. Werden Paare zu Partys offizieller und sehr häufig auch privater Art eingeladen, steht auf der Einladung gerne nur der Name des Mannes. In ihrem Fall: "Sylvère Lotringer und Begleitung."
Auf einer solchen Party in New York bemerkt Chris, dass sie keine Freunde mehr hat. "Bevor sie Sylvère traf, war sie ein merkwürdiges und einsames Mädchen gewesen, doch nun war sie niemand mehr."
"Ich kam mit Sylvère zusammen, weil mir klar geworden war, wie ich ihm dabei helfen konnte, sein Leben in den Griff zu kriegen. Ich fühle mich zu dir (Dick) hingezogen, weil ich sehe, wie du mir dabei helfen kannst, mein Leben auseinander zu nehmen..."
Dick ist eine Folie, auf die Chris all das projiziert, was ihr am Herzen liegt. Sie versucht, ehrlich zu sein und es ist ihr ein Anliegen, das Persönliche als etwas Universelles und auch Politisches darzustellen.
Wie eine Frau denkt und handelt, wie sie fühlt, wofür sie sich schämt, was sie mit ihrer Kunst transportieren möchte bzw. welche Energie darin schwingt, das Problem der Identität - selbst jemand zu sein und nicht die Begleitung - und gehört zu werden.
Die Themen Scheitern und Zurückweisungen, Wahrhaftigkeit und Lügen, um ein bestimmtes Bild zu erzeugen oder aufrecht zu halten und wie viel Erfolg man damit haben kann (oder ist nur dadurch ein Erfolg überhaupt möglich?), das Leben gerade nicht als eine Performance zu betrachten, auch wenn Chris sich an einer Stelle fragt, ob die (einseitige) Romanze mit Dick nichts anderes als ein "Konzeptfick" sei - dies und noch mehr bedenkt Chris in ihren tagebuchartigen Briefen an Dick.
In denen selbstverständlich auch die Sexualität großen Raum einnimmt.
Auch Schizophrenie wird thematisiert, die französischen Poststrukturalisten kommen zu Wort, da Sylvère Franzose ist und einige der großen Männer persönlich kennt und bei ihnen in Paris studiert hat.
Und die Religion, die jüdische Art, auf die Welt zu blicken.
In einem Interview mit "Der Standard" vom 4.02.2017 sagte Chris Kraus: "Er (Dick) war keine Muse, sondern eher ein leeres Blatt Papier, auf dem ich schreiben konnte."
Neben den oben genannte Themen schreibt Kraus auch eindrücklich über Vorgänge in Guatemala und die Rolle des CIA und der Aktivistin Jennifer Harbury.
Über die Route 126, die durch Felder führt, auf denen faktisch Sklaven arbeiten.
Da Chris viel mit dem Auto unterwegs ist, z.B. 5000 km von
Los Angeles nach New York fährt, ist das Buch auch eine Road Novel, die viel Platz für Gedanken bietet, die sich auf der langen Fahrt einstellen. Erinnerungen an Geschehnisse, die manchmal ausgeführt werden, manchmal nur anklingen.
Und dies alles in den Briefen an Dick, die dieser irgendwann zu lesen bekommen wird.
Er hat die Güte, die Texte zu überfliegen. Er benimmt sich klassisch männlich. Er nimmt sich einen Teil von Chris und weist einen großen anderen, wichtigen Teil zurück.
Chris Kraus hat ein Kultbuch geschrieben, das nun, nach zwanzig Jahren, endlich in deutscher Übersetzung vorliegt.
Und als Serie verfilmt wurde.
Sie selbst bezeichnet ihre Tagebuch-Brief-Essay-Fiktion als "Phänomenologie der einsamen Mädchen".
Andere Stimmen nennen ihn den letzten großen feministischen Roman des 20. Jahrhunderts und den ersten großen Liebesroman des 21. Jahrhunderts.
Wie auch immer man diesen Text nennen mag - er öffnet den Blickwinkel des Lesers massiv.
Er ist informativ, spannend, bewegend, wütend und traurig, vor allem aber nachdenklich machend.
Egal, ob Leserin oder Leser.
Chris Kraus: I love Dick
Übersetzt von Kevin Vennemann
Matthes & Seitz, 2017, 296 Seiten
(Originalausgabe 1997)