Kristiane Kondrat - Abstufung dreier Nuancen von Grau
"Es ist wunderbar, mit einem Schlitt-schuh zu fahren, ich könnte sogar tanzen. Ja, ich kann es. ... Im Tanzen, im Schweben sehe ich jetzt auch die Berge ringsum, die Wolken haben sich inzwischen irgendwohin zurück gezogen und die Berge freigegeben. ... Sie machen mir Fernweh mit ihrem Versteckspiel. Hinter den Bergen vermute ich die Welt, dahin möchte ich eines Tages. ... Hinter diesen Bergen muss irgendwo die Welt sein. ... Die Stelle, an der die Welt anfängt, verschiebt sich immer weiter, je schneller ich fahre, mich drehe. Ich hätte nie gedacht, dass ich auf dem Eis tanzen, dass ich so frei sein kann."
Mit dieser Erinnerung an die Kindheit endet der Roman.
Das herrliche Gefühl von Schweben und Freiheit bleibt
mit der Kindheit verbunden, im Leben der erwachsenen
Ich-Erzählerin hat es sich nicht eingestellt.
Sie wächst in einem Land östlich des eisernen Vorhangs auf.
Schon als Jugendliche lernt sie die Macht des Staates kennen, wird einmal verhaftet und misshandelt - wohl wegen der Bekanntschaft mit einem Jungen, von dem sie nicht einmal weiß, dass er mit einer Freiheitsbewegung im Ausland sympathisiert. Nach dieser Befragung muss sie die Schule verlassen.
"Man konnte immer Opfer werden, eine falsche Bewegung, ein falsches Wort am falschen Ort konnte einen dazu machen, man wusste jedoch nie, welche Worte als falsch einzustufen waren, welche Bewegungen an welchen Tagen als strafbar galten."
Später werden ihre Briefe geöffnet, ihre Wohnung durch-sucht, Freunde sollen sie aushorchen - nie und nirgends ist sie sicher.
Sobald wie möglich verlässt sie das Land. Zusammen mit einer Gruppe von zwanzig Personen fliegt sie in den Westen, lange vor der Wende. Nun ist sie im "gelobten Land", das sich ihr "als Abstufung dreier Nuancen von Grau" präsentiert.
Die Gruppe wird in eine Art Heim gefahren und dort befragt.
Ohne körperliche Gewalt, aber mit demselben Anspruch, "ALLES" wissen zu wollen, genau so wie in der "alten Heimat".
So fremd die neue Heimat ist, dieses Herumstochern in ihrem Leben ist ihr vertraut - gerade das macht es für sie so schwer, sich sicher und frei zu fühlen.
Lange befindet sie sich in einem "Niemandsland":
"Dieses Niemandsland war für mich ein sich stets verlängernder Zwischenzustand, ein Zustand wie das allmähliche Erwachen aus einem Albtraum. Ich wusste nie, ob ich noch im Traum war oder bereits herausgetreten und im Begriff, in einen anderen einzusteigen, ob der Albtraum das Reale war oder der Zustand des Austretens, ob das, was wir Realität nennen, nicht vielleicht aus einem immer-währenden Austreten aus Träumen und Wiedereintreten in Albträume bestand, aus einem ständigen Übergang. Ich konnte es nicht beurteilen, ob ich, wenn ich mich aus einem Albtraum herauswand, nicht vielleicht schon in die Irrealität eingetreten war. Auch wusste ich oft nicht, wo ich mich gerade befand, denn auch die Stadt änderte von Stunde zu Stunde ihr Gesicht."
Nur langsam kann sie die Ängste ablegen, bzw sie lernt,
mit ihnen umzugehen.
Dabei helfen ihr vor allem ihre Erinnerungen, die immer weiter zurückreichen und sich unter ihre Gedanken mischen. Dieses Anknüpfen an die Vergangenheit - auch an unschöne Erlebnisse - ist das, was sie am Leben erhält, und ihr die Gewissheit gibt, sich nicht selbst fremd geworden zu sein.
Kristiane Kondrat schreibt in einer poetisch-lyrischen Sprache. Sie entwirft phantasievolle Bilder, um die Zustände, in denen sich ihre Heldin befindet einzufangen und auszu-drücken.
Im gesamten Roman wechseln Zeiten und Orte, Träume und Erinnerungen einander ab, bzw fließen ineinander über. Nicht immer ist klar, wo die Erzählerin sich gerade befindet, in welcher Stadt, in welcher Heimat, im Traum oder in der Realität. Diese Ungewissheit reflektiert jedoch ganz genau den Zustand des Lebens im "Niemandsland", im Dazwischen - zwischen innerer und äußerer Realität, zwischen den Zeiten und Orten.
Die Unsicherheit der Protagonistin überträgt sich auf den Leser und vermittelt einen Eindruck davon, wie sich das Leben im Niemandsland anfühlt - es versetzt in höchste Anspannung, auch körperlich ist sie zu spüren - doch der Leser weiß um das Ende dieses Gefühls, für die Heldin erscheint es endlos.
Erste Teile des Romans entstanden bereits in den sechziger Jahren in Rumänien. 1973 emigrierte die Autorin, die 1938 unter dem Namen Aloisia Bohn im Banat geboren worden war, nach Deutschland. Und erst im Jahr 1997 erschien er.
Das Buch trägt autobiographische Züge, doch der Text, der von Isolation, Verwirrung und Verlusten erzählt, ist nicht nur die Beschreibung eines Einzelschicksals zu einer bestimmten Zeit. Der Roman ist zeitlos und ohne Bindung
an Orte. Er erzählt vom existenziellen Verlust der Heimat,
in der alles zurückgelassen wird, außer der eigenen Ohnmacht.
Kristiane Kondrat: Abstufung dreier Nuancen von Grau
Mit einem Nachwort von Christina Rossi
danube books, 2019, 160 Seiten
(Originalausgabe 1997)