Volker Kaminski - Rot wie Schnee

Im Mittelpunkt des Romans steht ein Bild: "Der Junge im Schnee".

Es "zeigte einen etwa siebzehnjährigen Jungen, der mit den Füßen im Schnee versank und sein bleiches Gesicht dem Betrachter zuwandte. Er hatte den Mund weit geöffnet und die Augen aufgerissen. In einer stark ausholenden Körperdrehung streckte er den rechten Arm nach hinten und deutete auf eine Stelle im Schnee, an der ein umgestürzter Wagen lag ..." Es ist ein starkes Bild, das dem Betrachter kurz den Atem nimmt. Der "exaltierte Ausdruck im Gesicht" des Jungen ist das eine, der Clou an dem Bild ist jedoch der rote Schnee. Blutrot hat Tom Lautenschläger den Schnee dargestellt, nicht kitschig, es war ihm wichtig, dass "eine gewisse Natürlichkeit über der Szene lag."

 

Es handelt sich erkennbar um eine Flucht am Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem Osten. 

Doch das Bild beinhaltet viel mehr als das. 

 

Der Junge erinnert an den Vater Toms, der als Siebzehn-jähriger aus Ostpreußen floh, verantwortlich für seine Mutter und die Schwestern, sein Vater war im Feld.

Das Bild zeigt jedoch nicht den Vater als spezifische Person, sondern es zeigt die Flucht als solche: es bildet nicht einen bestimmten Moment ab, es ist eine überzeitliche Darstellung des Schreckens. Das Grauen und die Angst spiegeln sich in den weit aufgerissenen Augen des Jungen.

 

Aus diesem farbintensiven Bild entwickelt sich eine Serie in Grau. Sie stellt Alltagsszenen der Nachkriegszeit dar.

Diese Zeit ist in Toms Erinnerung mit Grau überzogen:

der Sommerhimmel genauso wie das Gras und die Haut seiner Eltern.

 

"Die Nachkriegszeit war noch von den Schockwellen des Krieges erfüllt. Das Kind hatte in seinem Innern gespürt, dass irgendetwas Schreckliches geschehen war. Den Frieden hatte es nicht wahrgenommen, weder die Versöhnung noch den Neubeginn, stattdessen die überall lodernden Aggressionen, den dumpfen Druck, unter dem sich die Welt befand. Der Krieg war seit Jahren vorbei, die Kapitulation unterzeichnet, aber die Erinnerung an die schreckliche Zeit war noch in den Augen vieler Erwachsener zu lesen."

 

Für Tom endete die Nachkriegszeit in gewisser Weise nie.

Er hat nicht den Krieg selbst miterlebt wie seine Eltern (die nichts als streiten und sich schließlich auch trennen), aber er wuchs mit den Erinnerungen und Narben der Eltern auf,

die Fremde blieben in der BRD. So auch Tom, der Mitte der fünfziger Jahre zur Welt kam.

Diese grauen Bilder zeigen "sein eigenes Überleben.

Was seine Augen gesehen hatte, hatte Lautenschläger nie gesehen."

Dass Tom seinen Vater stets nur mit dem Nachnamen nennt wirft ein sprechendes Bild auf sein Verhältnis zu diesem.

 

Es folgt eine dritte Serie von Bildern: auch sie zeigen die Zeit nach dem Krieg, den Alltag, aber er malt sie wieder in Farbe.

Damit wendet er sich der Welt, wie sie ist, zu: bunt.

 

Die drei Phasen seines Schaffens gehen mit drei Themen einher, die Tom bearbeitet: Flucht, Familie, Heimat.

 

Gespeist werden alle drei aus den Quellen eigener Erinnerungen, "geerbten" Erinnerungen und solcher, die

im Lauf der Zeit heraufbeschworen werden. Alle diese tief vergrabenen Bilder kommen ans Licht, werden auf die Leinwand gebannt.

 

Ein besonderes Faszinosum des "Jungen im Schnee" ist,

dass sich das Bild verändert. Das sieht nicht nur Tom, darüber erschrickt auch sein Galerist Oliver: der Junge verändert seinen Gesichtsausdruck. Es wäre eine Erklärung, dass im Zuge der Veränderung der eigenen Erinnerung,

d.h. der inneren Bilder Toms, sich auch sein Blick auf das

Bild und damit das Bild selbst sich verändert.

Doch für Oliver? Hier verschwimmen Realität und Irrealität.

Vielleicht weil immer ein Rest an Unerklärlichem bleibt?

 

Realität und Traum verschwimmen während des ganzen Romans: Tom führt lange Traum-Gespräche mit seinem Vater und auch mit dem Jungen des Bildes.

Seine Suche schläft auch in der Nacht nicht, hier begegnet er jenen, die er mit dem Bewusstsein alleine nicht fassen kann.

 

Es stellt sich heraus, dass der Junge auf dem Bild ein Nachbarskind war. Toms Schwestern erkennen in dem Bild ein Flüchtlingskind namens Kramatschek.

Ein schüchterner, dürrer Junge, der ebenfalls ein Fremder in der Nachkriegsgesellschaft war und blieb.

Tom hatte sich an diesen Freund aus Jugendtagen überhaupt nicht mehr erinnert. Offensichtlich aber doch.

 

So schließt sich nach Jahrzehnten ein Kreis: Tom erkämpft sich seine eigene Vergangenheit zurück, befreit sich von der Nachkriegszeit und macht einer Zukunft Platz, in der er seine eigenen Bilder von den geerbten löst.

 

Ein Bild malt er noch, das die Entwicklung vollends zu ihrem Ende bringt.

"Darauf war ein alter Mann zu sehen, der auf einem Feld stand. Eine bleiche Gestalt in einem weißen Umhang. 

Um ihn herum waren Gegenstände verstreut, ... zahllose Kleinigkeiten - der alte Mann schien darin zu versinken...."

"Dein Vater?" fragt eine Malerkollegin. Tom bejaht.

"Der Alte ähnelt in seinem Umhang einem Gespenst. Das weiße Tuch drückt die Distanz zu seiner Umgebung aus, die bewohnt zu sein scheint, obwohl in diesem Moment niemand zu sehen ist. Es ist wie eine Ergänzung zum Heiligenbild."

So nennt die Malerin den "Jungen im Schnee."

 

Tom überlässt seiner Freundin und Kollegin das Vater-Bild.

Es soll nicht alleine in seiner Wohnung bleiben, denn Tom fährt für unbestimmte Zeit weg.

 

 

Aus dem Nukleus des "Jungen im Schnee" entwickelt Volker Kaminski eine weitreichende Geschichte.

Sie beginnt ein Jahrzehnt vor der Geburt des Malers Tom

und endet, als Tom längst ein erwachsener Mann ist.

Der Begriff "Vergangenheitsbewältigung" greift viel zu kurz, denn sein vielschichtiger psychologischer Roman ist eine Auseinandersetzung mit der Kunst, die immer auch eine Forschungsreise ist. Und Arbeit. 

In einer leichten und gut lesbaren Sprache lässt er den Leser einem Künstler bei der Arbeit zuschauen und gibt dabei dem Menschen und den Bildern Raum und Stimme.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Volker Kaminski: Rot wie Schnee

Verlag Wortreich, 2016, 248 Seiten