Dagny Juel - Flügel in Flammen

Wer war Dagny Juel? Wer war die Frau, die 1867 in Norwegen zur Welt kam,

im Jahr 1901 in Tiflis eines gewaltsamen Todes starb, deren Gesamtwerk zum ersten Mal 1996 in Norwegen und jetzt erst auf Deutsch publiziert wurde, und das ungefähr

90 Seiten umfasst?

Ohne Lars Brandts fundierten Essay - glänzend geschrieben, ohne mit all seinem Wissen den Leser blenden zu wollen - könnte diese Frage nicht ansatzweise beantwortet werden. Zu dürftig sind die Informationen, zu ausufernd die Gerüchte, die Brandt sorgfältig von der Wahrheit, bzw. dem, was gesichert ist, trennt.

 

Dagny Juel kam aus einer Familie, die zum alten Adel zählte. Ihr Vater war Arzt, sie besuchte die Realschule, begann anschließend eine Ausbildung als Pianistin, die sie mit dem Konzertdiplom abschloss. Ihr Klavierspiel führte sie im Jahr 1892 nach Berlin. Dort sollte sie ihre Studien fortsetzen.

Jedenfalls war dies die offizielle Begründung - vielleicht wollte sie auch einfach der Enge in Südnorwegen entfliehen?

 

Sie kam nach Berlin, das in jenen Jahren ein Anziehungs-punkt für viele Künstler, Lebenskünstler, Lebenslustige und Freiheitssuchende war. Sehr schnell wurde sie zum Mittel-punkt einer Gruppe von Künstlern, die sich in der Kneipe "Zum Schwarzen Ferkel" traf. Diese Bohemiens lebten von ihren Gedanken, ihren Reden und sehr viel Alkohol.

 

Die ganze Gruppe, unter ihnen August Strindberg und Edvard Munch, war fasziniert von der fünfundzwanzig-jährigen Frau, die eine unglaubliche Ausstrahlung hatte.

Die für sie tanzte, die intelligent war und die wirren Gedanken der diskutierenden Männer auf den Punkt bringen konnte, die vor allem eine Fläche für mancherlei Wünsche und Projektionen der nach außen hin modernen, im Kern aber immer noch sehr altmodischen Männer war.

Für die Frauen nach wie vor Göttinnen und Huren waren, keinesfalls aber Menschen mit eigenen Wünschen und Rechten.

 

1893 heiratete sie den polnischen Dichter Stanislaw Przybyszewski, der sie am Anfang in den Himmel hob und sie, als das erste Feuer verglüht war, beleidigte und öffentlich erniedrigte.

Das Paar hatte zwei Kinder: Zenon, geboren 1895 und Iwa, 1897. Zusammengerechnet drei der ersten fünf Jahre dieser Ehe verbrachte Dagny in ihrem Elternhaus. Dort fand sie Schutz und (ein wenig) Unterstützung und ganz schlicht Nahrung. Ihr Mann war nicht bereit, auf seine zweite Familie und diverse Geliebte zu verzichten, das Geld war immer äußerst knapp. Zuweilen begleitete er sie nach Kongsvinger, doch er langweilte sich in diesem kleinen Ort, ihm fehlte der Dampfkessel Berlin.

 

Als Dagny ihren Mann 1898 nach Polen begleitete, war das kein Anlass für ihn, bei ihr zu bleiben. Sie lebte alleine in bitterster Armut in einer winzigen Wohnung. Von Polen aus reiste sie mit einem "Jünger" Przybyszewskis - er war unter anderem Satanist und Herz einer Gruppe Gleichgesinnter - nach Georgien. Dieser junge Mann erschoss Dagny Juel in einem Hotel in quasi-religiöser Verblendung.

Anschließend erschoss er sich selbst.

Den fünfjährigen Zenon holte eine Freundin Dagnys nach Polen zurück,  Przybyszewski hatte kein Interesse an seinem Kind. 

 

 

Wo und wie entstand nun Dagny Juels Werk?

Was zeichnet es aus?

 

Sie schrieb vor allem Berlin und in ihrem Elternhaus in Norwegen. Die Texte entstanden zumeist um die Mitte der neunziger Jahre des ausgehenden Jahrhunderts. Jener Zeit, die überaus überspannt war, zwischen Moderne und Tradition, zwischen Aufbruch und Festhalten am Bekannten, zwischen einem alten und neuen Selbstverständnis der Menschen schwankend.

 

Sie selbst sah sich nie in erster Linie als Schriftstellerin.

Ihr Beitrag zur Literatur bestand für sie selbst in der Förderung der schreibenden Männer um sie herum.

So, wie sie nur ein einziges öffentliches Konzert gab, ansonsten setzte sich eher Przybyszewski ans Klavier und hämmerte in die Tasten, so hatte sie nicht den Drang, ihre eigenen Texte an die Öffentlichkeit zu bringen.

Und niemand förderte sie. 

 

Dagny Juel schrieb Kurzprosa, Gedichte und Dramen.

Sie erforscht darin die Seelen, das Innenleben ihrer Figuren. Vor allem die Verwerfungen und Stürme, die von Liebe und Leidenschaft ausgelöst werden. 

Es gibt weder die Beschreibung eines Raumes noch die einer Landschaft, es ist alles Stimmung und Ahnung, Träume sind sehr wichtig. Die Figuren sind nicht individuell gezeichnet, sie sprechen manchmal ganz direkt und alltäglich, dann wieder artifiziell, symbolisch aufgeladen, deklamierend. 

 

Die Gedichte singen von Liebe, Tod, Träumen, Erinnerungen und Sehnsüchten - von den existenziellen Fragen.

Sie sind sehr melodiös - "De la musique avant toute chose" (Paul Verlaine) stellt sie ihren Gedichten voran.

Doch sie sind auch von Farben geprägt. Rot, gold, grau, bleigrau, phosphorweiß und sehr häufig "bleich", eine Mischung aus Farbe und Zustand. Sie untermalen das Seelenleben ihrer Figuren in expressionistischer Manier.

 

In den Dramen geht es ausschließlich um Dreiecksverhält-nisse. Um die Macht, die ein Mensch über einen anderen hat, diese kann über den Tod hinaus reichen. Um Eifersucht und um die "Gewalt ihres Geschlechts", wie Brandt es ausdrückt, in der sich Männer wie Frauen befinden. 

 

Juels Frauen sind nicht frei von Schuld, sie morden und nehmen sich, was sie wollen, sie sind böse und schrecken vor nichts zurück, sie sind frei von Moral - und genau das ist das faszinierende, das neue, das unglaubliche an Dagny Juels Texten.

Hängen die Schriftstellerinnen ihrer Zeit eher dem Naturalismus an, bewegt sich Juel auf anderem Boden.

 

Bei ihr sind die Frauen nicht gut. Sie ist "die einzige norwe-gische Dramatikerin ihrer Zeit, die den Mythos der weiblichen Unschuld hinter sich ließ. Paradoxerweise tat sie es mithilfe des Paradigmas der romantischen Liebe, von der die meisten Autorinnen sich freizukämpfen suchten."

 

Juel ist Przybyszewski verfallen. Obwohl sie eine kluge Frau ist, die selbstständig leben könnte, die auch immer wieder Affären hat. Ihr Leben ist voller Widersprüche und Ambi-valenzen. In dieser Atmosphäre ist ihr Werk entstanden,

das die Gewalt der inneren Kämpfe thematisiert.

Das von der Liebe und vom Tod spricht, dieser ist allgegen-wärtig. Nicht in schwärmerischer Sehnsucht, wie es häufig

zu lesen ist, sondern als Faktum.

 

Ihr Werk vermisst das Dasein "zwischen den Polen unheimlicher Kraft und gleichzeitigen Ausgeliefertseins. Dieses Spannungsverhältnis bestimmt Dagny Juels Leben und ihre Dichtung."

Sie zeichnet Frauen, die von Begehren und Leidenschaft bestimmt sind. Sie überlässt die Sexualität nicht den Männern. 

 

"Alle ihre Frauenfiguren, ... haben dieselben Verbrechen begangen. Sie wagten, Frauen zu sein. Sie haben abgelehnt, unschuldig zu sein, abgelehnt, gut zu sein, abgelehnt,

Kinder zu sein", so die Literaturwissenschaftlerin Mary Kay Norseng.

Dagny Juel wehrt sich gegen den Begriff der weiblichen Güte.

 

Das ist einer der Gründe, warum Dagny Juels Werk heute noch - oder erst - aktuell, interessant und lesenswert ist.

Sie zeichnet mit symbolistisch-expressionistischen Mitteln Frauenfiguren, die sich gegen die traditionelle Einordnung, die auch heute noch nicht vollständig überwunden ist, wehren. 

 

"Sie ließ sich nicht auf eine klare Rolle reduzieren, wollte alle Gefühle erkunden, verfocht zur Verwirrung der Männer um sie herum ihre weibliche Selbstbestimmung  - und kettete sich dann unlöslich, durch keinen Verrat und keine Erniedrigung zu beirren, an einen Mann, der absurde Vorstellungen vom gegensätzlichen Charakter der Geschlechter formulierte und der seine Frau Dagny von Anfang an schmählich hinterging."

 

 

Da es keinen Sinn macht, einzelne Zeilen oder Dialog-abschnitte wiederzugeben, verzichte ich auf Zitate aus

Dagny Juels Werk. Sie würden den Einblick eher trüben als erhellen, da sich weder die Kraft noch die Tiefe  oder die Verbindungen, die zwischen den einzelnen Texten bestehen, erfassen ließe. 

Eine Leseprobe, um eine Vorstellung von Juels Stil zu bekommen, findet sich unten, besser ist es natürlich,

die ungewöhnlichen und faszinierenden Texte in voller Länge zu lesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dagny Juel: Flügel in Flammen, Gesammelte Werke

Übersetzt und mit einem Essay von Lars Brandt

Weidle Verlag, 2019, 176 Seiten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leseprobe

Ich will die wundersame Geschichte meines Lebens erzählen. Vielleicht werden nicht alle sie so wundersam finden – vielleicht ist auch noch anderen dasselbe widerfahren, aber davon habe ich nie gehört, und darum glaube ich, daß ich die einzige bin, die auf dieses entsetzlich tragische, mystische Schicksal zu starren hat.
Zuerst ein unendliches Lebensglück.
Ich sah ihn und wußte im selben Augenblick, daß ich ihn besitzen mußte und daß dies meines Lebens großer, tiefer Inhalt sein sollte. Beide wußten wir, daß wir zusammenleben mußten, sollte es sich lohnen zu leben.
Und so wurde ich sein, er wurde mein, und sie, die zwischen uns stand – brachten wir um. Wir schlichen uns nicht an und stachen ihr einen Dolch ins Herz, nein – und wir schossen ihr auch keine Kugel durch den Kopf. Nein – nein – nein – wir wußten nur mit lächelnder Sicherheit, daß sie sterben sollte und mußte – sie stand uns im Weg, das muß doch nun jeder begreifen können, wir brauchten sie nicht, niemand brauchte sie; also ließen wir sie dahinsiechen und sterben. Das ist doch wohl hinreichend klar: Natürlich mußte sie sterben – und wir zwei hatten soviel Macht in unserer unendlichen Liebe, wir konnten alles, alles beugte sich uns.
Dann war sie also tot, und wir waren frei!
Und das Glück kam wirklich, es schreckte nicht zurück vor unserer rücksichtslosen Liebe, es folgte uns, umarmte uns und lachte uns an, und ich glaubte, es sei unser angeborener Freund, unsere Mutter – inzwischen habe ich verstanden, welch grausames Spiel es mit uns trieb.
Und wir zogen durch alle Reiche und Länder des Glücks. Wo wir waren, schien die Sonne, und der Wind wehte freundlicher und ganz verträumt durch Blumen und Blätter.
Und nie wurden wir dieser Liebe müde, nie kamen Haß und Leid und setzten sich zwischen uns und hetzten uns aufeinander – nein, das wäre doch ziemlich gewöhnlich gewesen, nicht grausam, nicht raffiniert grausam genug. Sie, die Tote, war vergessen, wir erinnerten uns kaum ihres Namens – sie spielte keine Rolle mehr in unserem Leben.
Und doch – und doch – irgend etwas spukte mit der Zeit in meinem Hirn herum, etwas Rätselhaftes, eine Angst schrie mit der Zeit nach Erlösung – etwas aus meiner Vergangenheit sah mich an mit bleichen, rätselhaften Augen, und mit der Zeit konnte ich in den Gewitterwolken am Himmel, im Schrei der Möwen draußen überm Meer einen seltsam furchterregenden, schneidenden Hohn lesen.
Und dann – dann kam jene große, schwarze Nacht, als ich erwachte und sah – und gelähmt vor Angst sah – sie auf der Kante meines Bettes sitzen. Und inmitten der Dunkelheit, inmitten der Nacht sah ich nur zu deutlich, mit eisiger, starrer Gewißheit, daß sie es war. Sie war auferstanden von den Toten! Nun wollte sie sich rächen – nun wollte sie ihren Haß befriedigen, den wir mit ihr tot geglaubt hatten.
Und nie mehr seitdem verließ sie mich – jede Nacht, jede schlaflose Schreckensnacht saß sie an meinem Bett, und nie sah ich einen anderen Ausdruck in dem vom Tod gestempelten Gesicht als diese steife Ruhe – diese unbarmherzige, todeskalte Unheimlichkeit.

(aus dem Prosatext "Rediviva")