Felix Jackson - Berlin, April 1933

Der dreiunddreißigjährige Berliner Anwalt Dr. Hans Bauer verbrachte vier Monate in der Schweiz. Es war ein dringend benötigter Erholungsurlaub,

ohne Zeitungen, ohne viel Kontakt zur Realität außerhalb der Berge.

Am 23. April 1933 fährt Bauer zurück nach Berlin. Im Zug ereignet sich eine unangenehme Begebenheit: ein Reisender namens Herbert Cohn, Vizevorsitzender der Nationalbank, wird von einem

SA-Mann beleidigt, drangsaliert, abgeführt.

Die Mitreisenden ignorieren den Vorfall so gut es geht.

Sie schauen zur Seite, schweigen, murmeln "Heil Hitler".

 

Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was ihn zu Hause erwartet. In atemberaubender Geschwindigkeit hat sich Deutschland verändert. Genau ein Monat nach dem Ermächtigungsgesetz gilt auch für Bauer: er kann nicht weiter als Anwalt praktizieren. Wie er bei der Durchsicht seiner Familienpapiere festgestellt hat, ist der Vater seiner Großmutter Jude - und nach den neuen Rassegesetzen er selbst auch. Aus einer gutbürgerlichen Bremer Kaufmanns-familie stammend und sich selbstverständlich als Deutscher fühlend, ist ihm der Gedanke, nun plötzlich Jude zu sein, vollkommen fremd. 

 

Deutschland hat sich radikal verändert. Überall herrscht eine gespannte und aggressive Atmosphäre, Männer in braunen Hemden regieren die Welt, von der großen Politik bis zur Straßenbahn. Ein Graben zieht sich durch die Bevölkerung: Jude oder Arier, eine andere Frage gibt es nicht mehr.

 

Bauer trifft seine Geliebte Karin wieder. Schnell merkt er, dass sie ihm fremd geworden ist. Dies liegt auch daran, dass sie sich schnell und, wie es scheint, ohne die geringsten Zweifel mit der neuen Zeit arrangiert hat.

 

Dr. Bauers Partner in der Kanzlei sind Klaus von Isenburg, aus einer angesehenen Familie stammend (der Vater war General, der Großvater Minister unter Kaiser Wilhelm), sowie Siegmund Schwartz. Dieser ist Jude und schon nicht mehr im Büro, als Bauer zum ersten Mal nach seinem Urlaub dort hinkommt.

Er war von Braunhemden abgeholt worden, flankiert von einem Angestellten der Kanzlei. Gustaf Angermann heißt dieser, ein kleines Licht, das am Ende des Romans eine wichtige Rolle spielen wird. Angermann erhält später eine fristlose Kündigung, dafür wird er sich rächen. 

 

Bauer berichtet seinem Kollegen und Freund Klaus, dass er jüdischer Abstammung ist. Klaus verspricht, das "in Ordnung zu bringen." Auch Karin meint, durch ihre Freundin Margie, die mit einem hohen Nazifunktionär liiert ist, etwas für ihn tun zu können. Carl Adriani, verantwortlich für den "Schutz des deutschen Blutes" erteilt Bauer auch tatsächlich nach einem persönlichen Kennenlernen eine Art Ausnahmege- nehmigung, Bauer kann weiterhin als Anwalt arbeiten.

 

Erster Erleichterung folgt die Erkenntnis, dass diese Genehmigung ihren Preis hat. Adriani hat ihn in der Hand.

Zuerst verlangt er einhunderttausend Mark. Dann soll die Kanzlei einen Mann als Sozius aufnehmen, der dreist, dumm, unfähig und streng parteigläubig ist. Und der als Spitzel arbeiten soll, so ist zu vermuten.

Es folgt ein dritter "Schuldschein", den Bauer einlösen soll, dieser geht ihm ins Innerste.

 

Der Roman, der aus Tagebucheinträgen und Reflexionen besteht, hält sich nicht hundertprozentig an historische Genauigkeit. Es geht Felix Jackson um die Darstellung der Atmosphäre. Dies gelingt ihm vortrefflich, auch deshalb,

weil er viele Nebenpersonen einführt, deren Schicksale eine große Breite all dessen aufzeichnen, was Menschen in jenen Jahren erfahren mussten.

 

Da ist Hanna, Bauers Hausmädchen, die mit einem Halb-juden verlobt ist. Das kann lebensgefährlich sein.

Dr. Schwartz, Bauers Kollege, sieht keinen Ausweg, er

erschießt sich. Auf dem Totenschein steht "Herzversagen", veranlasst durch die beiden SA-Männer, die bei der polizei-lichen Untersuchung dabei sind. Auch die Polizisten sind nicht mehr unabhängig in ihrer Arbeit.

Das Leben von Frau Schwartz und auch das des Dienst-mädchens Annemarie kennt von da an auch nur noch eine Richtung: geradenwegs in die Hölle. 

Da sind außerdem die Guttmanns aus dem zweiten Stock,

ein altes Ehepaar, Kaufhausbesitzer und Juden.

Ihnen gelingt die Flucht.

Da ist das Hausmeisterehepaar Heiliger mit seinem Sohn Heinz, einem jugendlichen Denunzianten, der nicht davor zurückschreckt den Vater ans Messer zu liefern.

Aber dieser hatte seinen Sohn in jenem Geist erzogen, der ihn das Leben kosten wird.

Der Anwaltsgehilfe Schüller zahlt einen hohen Preis für seine Ritterlichkeit (das war mal eine Tugend).

 

Dr. Bauer und Karin verkehren viel in Künstler- und Schauspielerkreisen.

Auch hier gibt es alle Schattierungen von Arrangement, Anbiederung, Verrat, aber auch Widerstand und der Gang

ins Exil.

In vielen Gesprächen, die Hans Bauer mit seinen oder Karins Freunden führt, wird deutlich, welche Auswirkungen die neuen Gesetze auf jedes einzelne Leben haben.

 

Am Abend eines für Hans Bauer entsetzlichen Tages schleppt Karin ihn mit in die Oper. Sie verlangt, dass er sich auch mal wieder über etwas freuen solle.

"Sie hatte recht. Ich wußte, daß sie recht hatte. Aber wie kann ich mich über etwas freuen, solange der Gestank von brennendem Fleisch in meiner Nase sitzt und meine Augen nur schmerzverzerrte Gesichter und verstreute Asche sehen? Kann ich dem einfach den Rücken kehren? Mich abwenden und es vergessen? Ja, ich kann. Ich muß. Millionen um mich herum wissen, was ich weiß, machen dieselben Erfahrungen. Sie wenden sich ab und sehen nicht, was sie nicht sehen wollen. Ich muß lernen zu leben wie sie. Ich bin Deutscher. Die Deutschen sind eine starke Rasse. Ein hartes Volk. Vielleicht stammt die Schwäche in mir von diesem Vorfahren, dem sentimentalen Juden."

 

Die Machthaber haben es geschafft, dass die Opfer die Schuld bei sich suchen, sich für unfähig und unwürdig halten.

Sie haben das Land und die Köpfe fest im Griff, und das ging rasend schnell.

 

Felix Jackson, geboren 1902 als Felix Joachimson in Hamburg, emigrierte im Oktober 1933 nach Österreich,

dann nach Ungarn, schließlich 1936 in die USA.

Er schrieb Drehbücher, wurde Filmproduzent, "Berlin, April 1933" war sein dritter Roman, er erschien 1980.

 

Aus der Rückschau geschrieben also und so komponiert, dass sich das Geschehen aufs Ende hin unglaublich verdichtet.

Die Erzählstimme zoomt sich regelrecht in Bauer hinein.

Der Auftakt für den letzten Akt ist die Begegnung Bauers mit einer jungen Frau namens Berta. Wie er später erfährt, ist

sie Jüdin, ihr Freund ist Kommunist. Dieser ist abgetaucht, Berta wird in Schutzhaft genommen und zwei Monate lang verhört. Danach ist kaum ein Knochen an ihrem Körper heil. Sie wurde gefoltert und vergewaltigt, schließlich hinaus-geworfen wie ein Sack Lumpen. Und kommt just an dem Abend bei Bauers Freunden Willmann an, als er dort zu Besuch ist. Er ruft einen Arzt, Berta kann gerettet werden.

Die Mutter von Barbara Willmann denunziert jedoch ihre Tochter wegen des Vorfalls mit der "Judensau."

 

Berta erzählt Hans Bauer ihre Geschichte, als sie dazu

in der Lage ist.

Diese Erzählung gibt Hans die Kraft, das zu überstehen,

was ihm angetan wird, als er selbst in Schutzhaft ist.

Gustaf Angermann hat noch eine Rechnung mit ihm offen, so meint der ehemalige Gehilfe.

 

Bauer ist Opfer eines Verrats geworden. Sein Verständnis

von Ehre und Treue hat ihn in eine Falle tappen lassen.

Mit Hilfe seines Freundes Klaus kommt er aus dieser wieder heraus. Spätestens jetzt ist ihm klar, dass es das Deutschland, das er kannte, nicht mehr gibt.

Und dass er seinen Platz in einem anderen Land suchen muss.

  

 

 

 

Jacksons Motto in der 1992 erschienenen Ausgabe lautet:

"Wenn wir über gestern reden, sprechen wir von heute und morgen." Das mag pathetisch klingen, aber es ist richtig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Felix Jackson: Berlin, April 1933

Übersetzt von Stefan Weidle

Weidle Verlag, 2018, 288 Seiten

(Originalausgabe 1980)