Rita Indiana - Tentakel

"Mit zwei Wirklichkeiten konfrontiert zu sein fühlte sich an, als würde er ein Puzzle machen und gleichzeitig die Fernsehnachrichten schauen; seine Gegenwart waren die Nachrichten, vorhersehbar und harmlos, die Welt der Bukanier war das Puzzle, auf das er sich konzentrieren musste und von dem er gelegentlich aufschaute, ohne die ein, zwei Puzzleteile loszulassen,                                                     die er gerade in der Hand hielt."

 

Der Leser ist nicht nur mit zwei Wirklichkeiten konfrontiert wie Argenis. Er hält noch einige Puzzleteile mehr in der Hand.

 

Argenis kam in den 1970er Jahren auf Santo Domingo zur Welt. Anfang des 21. Jahrhunderts wurde er Teil des

Sosúa Projektes an der Playa Bo, das die Förderung zeitgenössischer Kunst und die Erhaltung des Meeres

zum Ziel hatte.

Dieser Aufenthalt bei Giorgio und Linda Menicucci, sie Meeresbiologin mit großer Mission, er Kunstkenner mit Händchen fürs Materielle, ist die "harmlose" Gegenwart.

Zu schaffen macht Argenis ein Traum, der sich zu einer Vision ausweitet und schließlich in der Realität endet: er lebt gleichzeitig im 17. Jahrhundert, ist mit den Bukaniern, einer Freibeutertruppe, die die Küste unsicher machte und zum Inbegriff der Piraten wurde, unterwegs.

Er ist ein Künstler, der auf einer Druckerpresse mitten im Urwald Bilder von der Kraft, Ausdrucksstärke und vom Format der Caprichos Goyas erschafft.

Ein Jahrhundert vor diesem. In der Karibik.

 

Interessanterweise werden die Abschnitte, die in der Gegenwart des Künstlers Argenis spielen, von einem Erzähler in der Vergangenheitsform erzählt.

Jene Passagen - und mitunter wechselt die Perspektive innerhalb eines Satzes - stehen im Präsens.

 

So ist die erzählte Gegenwart auch nicht das beginnende

21. Jahrhundert und der Ort nicht Playa Bo, sondern die Wohnung von Esther Escudero um das Jahr 2030.

Das Seebeben von 2024 hat nicht nur die Strandpromenade zerstört, es hat die Bevölkerung des Inselstaates in Armut gestürzt. Auch Acilde, eine junge Frau, die von Prostitution im Parque Mirador lebt. Acilde hat zwei Wünsche: sie möchte Chefkoch in einem guten Restaurant werden und sie möchte ein Mann werden. Ein Freier, der Arzt Eric, hilft ihr auf dem Weg zu beiden Zielen. Zuerst bringt er sie als Dienstmädchen bei Esther unter. Diese Frau ist eine Voodoo-Priesterin mit den besten Verbindungen direkt zum Präsidenten. Außerdem will Eric Acilde bei der Beschaffung des Super-medikaments Rainbow Bright behilflich sein.

Dieses verursacht eine Geschlechtsumwandlung mit nur einer Spritze.

 

Vorerst beobachtet Acilde aber noch, wie Roboter durch die Straßen fahren und obdachlose Haitianer einsammeln und entsorgen. Sie überlegt, wie sie zu Geld kommen soll, und

hat die Idee, eine sehr sehr wertvolle, lebende Seeanemone, die Esther Escudero besitzt, zu stehlen. Es kommt zu Komplikationen, bei denen Acilde erfährt, dass sie die Erbin Esthers sein wird, nicht nur im materiellen Sinn.

 

Später sitzt Acilde im Gefängnis, nun als Mann.

Er hat immer noch eine gute Verbindung zum Präsidenten,

der als junger Mann auf einer Party am Playa Bo, wo das Sosúa Projekt sich selbst feierte, auf faszinierende Weise Breakdance tanzte. Da war er erst zweiundzwanzig.

Später, als Präsident, hat er "die einundzwanzig Divisionen des dominikanischen Voodoo mit seiner Mischung aus afrikanischen Gottheiten und katholischen Heiligen zur Staatsreligion erklärt."  

 

Mit der Religion und ihren Auswüchsen legt sich ein weiteres Puzzleteil neben die Teile Umweltzerstörung, soziale Probleme sowie Biowaffen in der Karibik und Genderfragen. Die Vergangenheit, sprich der Kolonialismus, wurde bereits angesprochen, die Bukanier waren die Antwort auf europäische Eindringlinge. Was wörtlich übersetzt "Fleischräucherer" bedeutet, spielt auch im Roman eine Rolle.  Tiere, Tierhäute und Tierblut sind ein wichtiges Moment in den Träumen Argenis´. Und auch in seiner Kunst.

 

Die bildende Kunst mit ihren unvorhersehbaren Wegen,

mit ihrer Fähigkeit, Zeiten und Räume zu überbrücken und Entferntestes zusammenzuführen, ist ein Thema, das auf viele Teile gezeichnet ist. 

In einem großen Finale, jener Party, auf der auch der Präsident tanzte, kommt die Musik ins Spiel. Hier ist sie der eigentliche Protagonist. Vorgeführt von der Konzept- Künstlerin Elizabeth, die eine Klanginstallation erarbeitet hat, die alle Grenzen sprengt, jegliche Einteilung des Lebens in Zeit-Abschnitte hinwegfegt und Leben und Tod über die Jahrhunderte hinweg zum Schwingen bringt.

 

Acilde, Argenis und Giorgio, der vielleicht auch ein Bukanier war, verschmelzen zwar nicht zu einer Person, aber zu verschiedenen Ichs in vielleicht einer Realität.

 

Das ist alles nicht schmerzfrei, für den Leser nicht einfach nachzuvollziehen. Der Roman ist ein großes Experiment,

an dem die Geister sich scheiden (werden). Er arbeitet mit den bekannten Formen der Literatur, aber er setzt die einzelnen Aspekt so unkonventionell zusammen, dass etwas wirklich Neues dabei entsteht.

 

Rita Indiana, geboren 1977 in Santo Domingo, ist nicht "nur" Schriftstellerin. Dank ihrer Neuerfindung der Merengue,

der traditionellen Musik der Dominikanischen Republik,

die sie mit modernen Elementen versetzt, ist sie eine der berühmtesten Musikerinnen Lateinamerikas. 

 

In ihrem Roman verfährt sie wie in der Musik: sie mischt,

sie schichtet, sie verflüssigt, sie streckt ihre Fühler in so viele Richtungen aus, dass sie wie die Seeanemonen, jene skelettlosen, solitären Blumentiere, mit ihren freien Bewegungen die Menschen fasziniert.

 

 

 

 

 

 

 

 

Rita Indiana: Tentakel

Übersetzt von Angelica Ammar

Wagenbach Verlag, 2018, 160 Seiten

(Originalausgabe 2015)