Alexander Häusser - Noch alle Zeit

Ein Vater, der am Tag nach dem zehnten Geburtstag seines Sohnes für immer verschwindet, der Sohn, der meint, seine Mutter zu verraten, wenn er ein eigenes Leben möchte, eine Mutter, die nicht selten daran denkt, "abzuhauen, sich zu ver-stecken", ihre fünfjährige Tochter, die plötzlich weg ist - wie oft kann man nach einem Verlust neu anfangen? Wie oft sich                                            wiederfinden?

 

Edvard ist zehn, als sein Vater ihn und seine Mutter verlässt. Er ist über sechzig, als seine Mutter stirbt. Bis zu ihrem Tod leben die beiden zusammen in einem Haus, das dringend renoviert werden müsste - es atmet nichts als Vergangenheit, die Zeit steht still in dieser Behausung. 

Er wollte der Sohn sein, der alles richtig macht, die Mutter nicht mit ihrem Schmerz alleine lässt. Dieses Denken hat sich so festgesetzt in Edvard, dass er auf ein eigenes Leben und auf ein gemeinsames Leben mit Elsie verzichtet hat.

 

Seine Jugendliebe verließ das Dorf, nachdem sie eingesehen hatte, dass Edvard sich nie würde von der Mutter lösen können. Einmal, fünf Jahre nach ihrem Umzug nach Lübeck, besucht er sie an ihrem Arbeitsplatz, einer Bank. Sie freut sich, möchte sich mit ihm zum Abendessen treffen, doch er bekommt Angst vor dem eigenen Mut und nimmt den Bus, fährt wieder nach Hause. Erzählt der Mutter nicht, wo er war, geht am nächsten Tag wieder zur Arbeit. Fügt sich.

 

Nach dem Tod der Mutter findet er ein Sparbuch, das auf seinen Namen läuft, auf dem sich ein kleines Vermögen angehäuft hat. "Woher kam das Geld?" - diese Frage führt Edvard tief in die Vergangenheit.

Er findet heraus, dass die Einzahlungen aus Norwegen kamen. Dorthin fuhr sein Vater immer wieder geschäftlich.

Hat er das Geld für ihn angespart?

 

Edvards Geschichte wird parallel zu der Alvas erzählt.

Alva ist Anfang dreißig, hat eine fünfjährige Tochter, Lina, lebt getrennt von Linas Vater Tom, arbeitet freiberuflich als Journalistin, kommt manchmal nicht umhin, Geld von ihrer Mutter anzunehmen, um über die Runden zu kommen, wofür sie sich hasst. Sie hat ein sehr gebrochenes Verhältnis zu ihrer Mutter, nie fühlte sie sich geliebt, immer wurde die kleine Schwester bevorzugt - ein Leben lang befand sie sich zwischen Auflehnung und der Suche nach Liebe.

 

Auch ihre Rolle als Mutter erlebt sie ambivalent. Sie liebt Lina über alles, aber sie sehnt sich nach Freiheit, danach, einfach weggehen zu können, empfindet die Verantwortung für sich selbst als schwer genug.

Manchmal träumt sie davon wegzufahren, und "wo sie hinführe oder flöge würde schon die andere, neue Alva auf sie warten. Eine Alva ohne Geschichte, ohne Vergangenheit und Zukunft, in die sie hineinschlüpfen könnte. Sie würde Lina nie vergessen, wäre immer für sie da, würde sie lieben. Aber mit reinem Herzen, ohne Lüge, weil sie nicht für sie da sein müsste."

 

Für eine Reportage über magische Orte fährt sie nach Norwegen. Auf der Fähre begegnen sich Alva und Edvard, der sich auf die Suche nach seinem Vater gemacht hat - ihr Kennenlernen ist ungewöhnlich, dass sie die Reise  gemeinsam fortsetzen alles andere als selbstverständlich.

 

Beide begreifen, dass jeder für sich alleine nicht zum Ziel kommen würde, beiden fehlt das (psychische) Rüstzeug.

Edvard gerät unversehens in eine Art Vaterrolle, er will und muss sich um Alva kümmern. Die Journalistin hingegen verfügt über das Knowhow, wie man etwas oder jemanden ausfindig macht.

 

Ab dem Zusammentreffen der beiden wird der Roman zu einem Roadmovie, das immer weiter in den Norden, und die Protagonisten immer näher zu sich selbst führt.

 

Vorsichtig, ohne Hast, ohne Bewertung, aber mit kluger Dramaturgie durchleuchtet Alexander Häusser das viel-schichtige und vielgestaltige Geflecht von Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Er spürt den Schatten nach, die auf einem Leben liegen, wie sie sich auswirken.

Er erkundet, wie eine Lüge ein Leben prägen kann, und dass Mut dazu gehört, sich aus einer vorgeprägten Form zu lösen.

 

So wirft Alva bei einem Streit Edvard an den Kopf:

"Trinken und dich bedauern - das ist alles, was du kannst. Und an allem schuld ist deine Mutter. Ja, klar. Toller Vorwand, kein eigenes Leben führen zu müssen. Du bist ein Feigling, Edvard. Ein Feigling. Gut, dass es diese Elsie noch geschnallt hat und weggegangen ist."

 

Doch das ist lange her, Elsie lebt wieder im Dorf.

Für Elsie und Edvard gibt es noch eine gemeinsame Zukunft, und vielleicht auch für Alva und Tom und Lina.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alexander Häusser: Noch alle Zeit

Pendragon Verlag, 2019, 280 Seiten