Michael Hugentobler - Feuerland
Zwei Hauptfiguren hat dieser Roman, der Dreh-und Angelpunkt ist jedoch ein Wörterbuch. Ein Buch, "das alles vor Farben funkeln" lässt, das "Bilder voller Licht und Schatten in den Kopf des Lesers" zaubert. "Ein Wörterbuch der Sprache eines Eingeborenenvolkes namens Yamana,...die in Patagonien gelebt hatten."
Dieses Buch ist das Werk eines einzelnen Mannes, der über fünfundzwanzigtausend Begriffe zusammengetragen hat. Seine Beschreibungen gehen weit über die Definitionen eines normalen Lexikons hinaus. "Es war eine Kopie der Wirklichkeit in Form von Wörtern." Und ein Buch, das über Kontinente und Zeitalter hinweg zwei Männer verbindet,
die beide der Magie der Sprache erlegen sind.
Der Urheber ist Thomas Bridges, geboren 1942 in London, aufgewachsen auf der Straße, in Heimen, häufig sitzt er im Gefängnis. Bis er mit vierzehn Jahren zusammen mit seinen Adoptiveltern nach Südamerika auswandert, wo diese eine Missionsstation betreiben. Der junge Thomas ist sofort fasziniert von der Sprache der Yamana, ihr widmet er sein Leben.
Auf kleine Zettel notiert er wie besessen die Wörter, die er später in sein Buch überträgt. Bis er nach der Rückkehr einer kurzen Reise nach England im Jahr 1886 damit aufhört.
Auf der Überfahrt hatte er die letzten Wörter eingetragen, dann schien seine Kraft verbraucht.
Er stirbt 1898 in Buenos Aires.
Das Buch, das ihm kurz vor seinem Tod gestohlen wurde, gelangt nach England. Und durch puren Zufall in die Hände des Linguisten und Ethnologen Ferdinand Hestermann.
1912 lässt ein Mann es auf einer Parkbank in London liegen, Hestermann nimmt es an sich und verwahrt es. Jahrelang trägt er es unter dem Hemd, fast als sei es ein Körperteil von ihm geworden.
In jeweils eigenen Teilen beschreibt der Autor die Lebenswege der beiden Männer. Die starken Kontraste machen einen großen Teil der Faszination des Romans aus, denn dem Leben des Missionars und Wörtersammlers in Südamerika steht das des Gelehrten in Österreich und Deutschland gegenüber.
Hestermann erhält seine Ausbildung in einer ordenseigenen Hochschule in der Nähe Wiens. Später lehrt er in Hamburg, dann in Münster. Er beherrscht einhundertacht Sprachen, und doch bekommt in den 1930-Jahren keine ordentliche Anstellung mehr in Deutschland. Da er nicht bereit ist, seine Forschung in den Dienst des herrschenden politischen Geistes zu stellen, wird er zum Außenseiter.
In einem sehr dramatischen Schlusskapitel ist zu lesen,
wie Hestermann das Buch vor der Beschlagnahmung durch die Nazis in Sicherheit bringt, das einzige Exemplar, das die Welt der Yamana verzeichnet.
In beiden Biographien spiegeln sich das Leben zwischen mehreren Kulturen und Sprachen, beide Männer sind konfrontiert mit Rassegedanken, Kolonisierung und Missionierung - jeder auf eine andere Art, bedingt durch völlig andere Lebensläufe in verschiedenen Zeiten.
Diese Themen liegen jedoch unter der Erzählebene.
Es ist keine theoretisierende, sondern eine sehr interessante, vielstimmige Geschichte mit vielen Ortswechseln und Nebenfiguren. Michael Hugentobler erzählt lebendig, realistisch und phantastisch von der Magie der Sprache.
Das Wörterbuch hatte er in der British Library selbst in der Hand!
Wie es (vielleicht) dorthin kam, steht ebenfalls in seinem Roman. Denn sowohl Bridges als auch Hestermann sind historische Figuren. Der Autor hat sich an den Biographien der beiden orientiert, ihre Leben jedoch auf märchenhafte Art miteinander verwoben.
Michael Hugentobler: Feuerland
dtv Hardcover, 2021, 224 Seiten