Tine Hoeg - Neue Reisende

Tine Hoeg, geboren 1985, geht in ihrem Romandebüt neue erzählerische Wege.

Schon ein Blick ins Buch genügt, um deutlich zu machen, dass es sich hier nicht um einen klassischen Roman handelt. Auf eine, zwei oder maximal drei Zeilen folgt eine Leerzeile.

Das ist in etwa so wie ein sehr langsam laufender Film, bei dem man die einzelnen Bilder wahrnimmt.

 

Die Leerzeilen geben Raum und Zeit, die Worte aufzu- nehmen, ihr Gewicht zu prüfen und im Kopf einen eigenen Film entstehen zu lassen. 

Das ist weder anstrengend noch schwierig, denn trotz dieser Leerzeilen entsteht kein sperriger Text, sondern einer, der sehr lebensnah vom Tasten und Suchen, vom Ausprobieren und Anecken erzählt.

 

Die Ich-Erzählerin ist eine junge Frau, die ihre erste Stelle als Lehrerin an einem Gymnasium antritt. Äußerlich ist sie nicht von den Schülern zu unterscheiden, braucht für den Zugang zum Lehrerbereich anfangs ihre Chipkarte.

 

Sie wohnt nicht am Ort ihrer Schule, sie fährt täglich mit dem Zug dorthin. Schon auf ihrer ersten Fahrt lernt sie einen Mann kennen, er ist ebenfalls Pendler, zehn Jahre älter als sie, verheiratet und Vater einer kleinen Tochter.

Sofort entsteht eine enorme erotische Anziehungskraft:

 

"das erste Mal dass ich dich nackt sehe:

 

Zugtoilette

 

irgendwo zwischen Kopenhagen und Naestved

 

das ist für mich ganz neu

 

jemand so haben zu wollen"

 

Es beginnt eine amour fou. Im Zug, im Park, schließlich in der Wohnung der Erzählerin treffen sich die beiden.

 

Über vier Monate erstreckt sich der Roman.

Im August findet diese erste Begegnung mit "dir" statt:

diese Anrede ist dem Geliebten vorbehalten.

Die Schüler werden mit Namen angesprochen, die Kollegen mit Bezeichnungen wie STAR oder BROM - sie spiegeln eher Entfremdung und Abstand zur Erzählerin, als dass sie dem Menschen eine Persönlichkeit verliehen. 

Mutter, Vater, Schwester tragen ebenfalls keine Namen.

Das "du" also, die persönliche Anrede des Geliebten, gleicht einer Anrufung, einer Beschwörung, entspringt dem Wunsch, er möge an sie denken.

 

Nebst der Begegnung bestimmt der Schulbeginn den Monat August, das Staunen darüber, in der Rolle als Lehrerin gelandet zu sein:

 

"es ist schwer sage ich

 

manchmal verstehe ich nicht

wie das passieren konnte

 

was?

 

dass ich Lehrerin von jemand bin"

 

Auf einem Radausflug wird klar, dass sich die Erzählerin mehr den Schülern zugehörig fühlt, als ihren Kollegen.

 

Der Monat September beginnt mit Maria, der Ehefrau des Geliebten. Wie sieht sie aus? Wie ist sie? Und wie ist Evy,

die kleine Tochter der beiden? Über Evy wagt die Erzählerin nicht zu sprechen, das erscheint ihr, als nehme sie etwas,

was ihr nicht zusteht.

 

Der Personenkreis hat sich also ausgeweitet, das Geschehen kulminiert in einer Begegnung der Vier vor dem Supermarkt.

Diese Szene macht die Verunsicherung des Mannes deutlich sichtbar:

 

"und sie gehört auch zum

macht auch mit im

 

Lauftreff

 

manchmal" 

 

Rührend-berührend der anschließende Traum der Erzählerin:

 

"vielleicht könnten wir

uns alle lieben?"

 

 

Im November dann eine erste Andeutung von Trennung:

 

"du bist nicht im Zug"

 

Fünf Seiten beginnen mit diesem Satz. Er ruft Verzweiflung, Ängste, Alpträume, Verwirrung hervor, das "ich" steht Kopf, sehnt sich, zoomt sich in Gedanken in sein Leben, weiß nicht ein noch aus.

 

Beeindruckend dicht ist dieser Minimalismus, in dem auch die Hochzeit der Schwester erzählt wird und ein Wieder-sehen mit dem Geliebten.

Eine Klassenfahrt nach Rom schließt diesen Monat ab.

 

Diese Fahrt ist thematisch eine Wiederaufnahme des Rad-ausflugs. Hier wird das Verhältnis zu Kollegen und Schülern weiter vertieft - diese Form der Ausweitung eines Themas ist kennzeichnend für den Roman. So baut Tine Hoeg eine komplexe Geschichte aus wenigen Sätzen, sie kommt mit knappen Beschreibungen aus, zeichnet mit wenigen Strichen präzise Bilder.

 

Der Dezember setzt ein mit einer Szene in der Klasse: die Schüler lesen Edgar Allen Poe. Dies ist der Auftakt zu den folgenden Träumen der Erzählerin, in denen sich Ängste und Reales ineinander schieben, Personen sich überlappen und sich alles auf einen Bruch hin entwickelt bzw. zuspitzt.

 

Dieser erfolgt dann auch mit den Geschehnissen bei einer Schulfeier, unterbrochen von einem Barbesuch mit dem Geliebten. Eine letzte Begegnung mit ihm findet auf einem Friedhof statt, ein ruhiger Spaziergang an besonderem Ort.

 

Für ihn ist es ein (erotisches) Abenteuer, die Erzählerin

stürzt in einen Strudel an existentieller Unsicherheit.

Die Begegnung  wirft sie aus der Bahn oder verhindert,

in eine solche überhaupt zu finden.

 

Denn auch ihr Ankommen an der Schule gelingt ihr nicht so, wie es erwartet wird. Ihr fehlen Autorität, Selbstbewusstsein und Routine. Sie sucht nach der richtigen Form des Unter-richtens, die wenigen Jahre Altersunterschied genügen, um ihre Methoden manchmal hilflos antiquiert wirken zu lassen. 

 

Wo ist hier ein Platz für die junge Frau?

 

Die Gedanken des Mannes lernt man nicht kennen, die Geschichte ist ausschließlich aus der Perspektive der Frau erzählt. Aus seinen Reaktionen ist jedoch deutlich zu erkennen, dass für ihn immer klar ist, wohin er gehört.

 

Tine Hoegs Roman ist sprachlich präzise und knapp, aber dank ihrer Urteilslosigkeit und Empathie, sowie ihrem Gespür für Situationskomik, gestaltet sie ihre Figuren sehr lebendig.

 

Immer wieder blitzt die Sonne durch, das klassische Symbol der Hoffnung - auch für die neuen Reisenden, die unterwegs sind, zur Arbeit oder/und zu sich selbst.

Tine Hoeg leuchtet den Raum aus, in dem junge und ganz junge Menschen sich bewegen, sie unterlegt ihn mit einem Lied von Beyoncé:

 

Hit me like a ray of sun

Burning through my darkest night

You´re the only that I want

think I´m addicted to your light 

 

Doch auch diesem Gefühl gibt sie einen kleinen Dreh:

Noah, ein Schüler, geistert durch die ganze Geschichte,

er spielt eine gewisse Rolle für die junge Lehrerin...

 

 

Ein gelungenes Debüt, eine ungewöhnliche Leseerfahrung!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tine Hoeg: Neue Reisende

Übersetzt von Gerd Weinreich

Literaturverlag Droschl, 2020. 200 Seiten

(Originalausgabe 2017)