Franz Hessel - Heimliches Berlin
Ein Berlin-Roman, der im Jahr 1924 spielt, zu einer Zeit, in der nicht nur Vermögen, sondern auch Gewissheiten weggespült wurden, lässt eine wilde Story vermuten, angesiedelt zwischen Aufbegehren und Untergang.
Dieser Berlin-Roman ist ein leiser,
ein schwebender, poetischer.
Einer, der unbedingt das Leben feiert.
Das Leben und die Sprache, denn diese hat Gewicht.
Hessel erzählt ohne Hast die Geschichte einiger Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch, oder gerade deshalb, einen famosen Reigen miteinander tanzen.
Vorab ein paar Worte zum Autor:
Franz Hessel kam 1880 in Stettin zur Welt, er hatte drei Geschwister, die Familie war recht wohlhabend.
1888 zog die Familie nach Berlin, nur zwei Jahre später verstarb sein Vater.
Er ließ die Familie finanziell gut versorgt zurück.
Von 1899-1906 studierte Hessel in München und verkehrte dort in der Künstlerkolonie in Schwabing. Von Jura wechselte er zur Orientalistik, schloss sein Studium aber nie ab.
Der Münchner Zeit folgten einige Jahre in Paris, kurz vor Ausbruch des Krieges kehrte er nach München zurück,
1920 zog er nach Berlin. Dort arbeitete er als Lektor und Übersetzer und schrieb diverse Romane. Bis 1938 blieb er dort, floh auf Anraten seiner Freunde nach Paris, dann weiter nach Südfrankreich. Er verstarb 1941 an den Folgen einer zweimonatigen Lagerhaft in Sanary-sur-Mer.
In diesem Roman hat er sich eine Art Echo erschaffen, in der Figur des Clemens Kestner. Dieser ist ein Professor der Philologie an der Universität Berlin. Er ist überaus gelehrt, vom Habitus eine Figur, die an Platon erinnert. Auf seine ganz eigene Art schwebt er über den Dingen, er ist sehr großzügig, tolerant, ein Liebender und auch ein Pädagoge.
Clemens ist verheiratet mit Karola. Erwin, der gemeinsame Sohn ist noch recht klein. Die Familie hat viel Geld verloren, sie müssen Räume ihrer großen Wohnung untervermieten.
Karola ist eine Frau voller Sehnsucht. Nach Abenteuer - sie möchte mit dem jungen verarmten Adeligen Wendelin nach Italien reisen, oder doch lieber mit dem Kunsthändler Eißner? - vor allem aber möchte sie gerne etwas Nützliches tun. Auch, um Geld zu verdienen, aber eigentlich, weil sie "noch andere Möglichkeiten habe als nur ... Mama zu sein."
Ihre Familie jedoch, der Ehemann Clemens und ihre fürsorg-liche Schwester Ida, die mit im Haushalt wohnt und diesen führt, "erlauben nicht, daß ich etwas Nützliches tue, sie wollen, daß ich immer nur da sei und mich verwöhnen lasse".
Das widerstrebt ihr. Sie trifft also den schönen Wendelin, jenen Adeligen, der nun zurück soll aufs Land, um dort bei seinem Onkel "Agrarier" zu werden. Ein Schöngeist, der die schönen Frauen liebt, die leichten Vergnügen.
Das Unbestimmte, alles, was sehr weit weg liegt von dem, was der Landwirt zu tun hat.
Sie könnten nach Fiesole fahren, dort hat Wendelin eine Tante. Er könnte in den Antiquitätenhandel einsteigen, man könnte so vieles. Und Clemens, wird er Karola ziehen lassen?
"Dem werde ich nicht fehlen. Ich glaube, er liebt mich am meisten, wenn ich nicht da bin. ... Er braucht ja keines Menschen Gegenwart, ob er mit seinen Nachbarn oder mit seinen Geistern redet, ist für ihn dasselbe..."
Vielleicht, doch für Clemens gehören Liebe und Besitz nicht zusammen, im Gegenteil.
Eine weitere Figur ist Margot, eine Frau, die sich aufs Lebens-Praktische versteht.
"Ich liebe meine Pferde, und im übrigen bin ich bereit, mich von jedem einigermaßen präsentablen und erträglichen Menschen lieben zu lassen, der mich mit dem nötigen Luxus versorgt. ... Die Arbeit, die man in unseren Kreisen leistet, Übersetzungen, Kunstgewerbe und dergleichen, schändet bekanntlich, soweit sie überhaupt bezahlt wird."
Es tanzen noch mit Maja, eine verflossene Liebschaft Wendelins, die aufstrebende junge Künstlerin Fancy Freo, ursprünglich Friederike Förster, ein sogenanntes Mädchen aus dem Volk, das das Berlinerisch-Schnoddrige verkörpert. Außerdem der junge Donath, ebenfalls verarmter Adel, ein Mann, der es versteht, trotzdem gut zu leben.
Darüber hinaus diverse Personen, die sich durch das Nachtleben bewegen, als Darsteller, Dichter, Zuschauer.
Und im Hintergrund bewegt sich Jutta, Kusine Wendelins, Ehefrau des Kunsthändlers Eißners.
Jede Figur hat ihr Profil, ihre Eigenheiten, ihre spezielle Art zu sprechen und sich zu bewegen - es ist ein Welt-Theater, das hier aufgeführt wird.
Der Roman, der an nur zwei Tagen spielt, bietet einen Blick in das Berlin, das neben dem lauten existiert.
Er fächert eine Vielfalt an konturierten Charakteren auf,
die angesichts der Kürze des Romans erstaunlich ist.
Hessel hat diesen Roman mehrfach überarbeitet.
Er hat dabei einen sehr konzentrierten Text geschaffen,
der jedoch keinerlei Schwere aufweist.
Er hat ihm ansatzweise die Situation seiner Ehe mit Helen Grund eingeschrieben, einer freien, intelligenten und nach Selbständigkeit strebenden Frau, auch in der Liebe, wie Karola.
Karola entschließt sich nach einigen Verwicklungen, doch in Berlin zu bleiben, nicht nach Italien zu reisen.
"Ach, eigentlich will ich wohl ins Paradies", und nicht nur über die Alpen.
Der schlafende Erwin war der Ausschlag, aber vielleicht auch die Erkenntnis, dass Wendelin noch etwas reifen muss.
Der ist kurz sehr verzweifelt, aber da fällt ihm die Unbekannte ein, die er kürzlich bei Margot gesehen hatte, eine große Frau mit Kopfschmuck und markantem Gesicht, "wie deine Athene", so seine letzten Worte zu Clemens....
So fügt sich am Ende alles in diesem Roman, in dem das Glück nicht in Besitz oder gesellschaftlicher Stellung liegt, sondern eher in Träumen - sie Pläne zu nennen, wäre schon vermessen. Er feiert das Glück zu lieben und das Glück geliebt zu werden, nicht immer fällt beides zusammen.
Den Leser beglückt Franz Hessel mit einem Roman, der Tragik und Komik bietet, er nimmt jedoch beiden mit feiner Ironie die Spitze. Er schenkt einen Text, der die Worte klug wählt und fein abwägt, der versucht, eine Balance herzustellen.
"In der alten Welt gab es etwas, das hieß Gewicht der Worte. Die Längen und Kürzen wurden bestimmt durch eine Schwere oder Leichtigkeit. Quantität war ein Gesetz. ...
Ich habe nie verstehen können, daß das Wort ein leerer Schall sei. Füllt nicht jeder Schall? Ein Zauber ist das Wort, und wer eines zitiert, sollte sich der Gefahr und Gnade bewußt sein. Zitieren heißt Geister beschwören", so Clemens.
Wer sich, wie ich, in diesen Autor verliebt hat, und mehr von ihm lesen möchte, dem sei "Der Kramladen des Glücks" empfohlen, ein früher Roman Hessels, der jedoch schon seine ganze Kunstfertigkeit zeigt.
Franz Hessel: Heimliches Berlin
mit einem Nachwort von Manfred Flügge
Lilienfeld Verlag, 2017, 160 Seiten
(Originalausgabe 1927)